Der neue Film

"Nostalgia" malt ein faszinierendes Bild von Neapel

Mario Martone erzählt im Kinofilm „Nostalgia“ von einem sanftmütigen Mann, der in seine Heimatstadt Neapel zurückkehrt. Er ist zugleich das Porträt einer Stadt, in der Gewalt und Gefahr omnipräsent sind

Von 
Gebhard Hölzl
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Pierfrancesco Favino (l.) als Felice Lasco und Tommaso Ragno als Oreste Spasiano in „Nostalgia“. © M. Spada/MFA/Picomedia/Mad Entertainment/Medusa/Rosebud Entertainment Pictures/dpa

„Nostalgie“ definiert der Duden als „vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik etc. man wieder belebt“. Genau darum kreist „Nostalgia“, italienischer Beitrag für den Auslands-Oscar, der 16. Kinofilm von Mario Martone („Capri-Revolution“), Jahrgang 1959, der sich in seiner Heimat zudem einen guten Namen als Theater- und Opernregisseur gemacht hat.

Neapel als Thema

In seinem Schaffen beschäftigt er sich immer wieder mit seiner Geburtsstadt Neapel. Gemeinsam mit Ippolita Di Majo („The King of Laughter“) hat er das Drehbuch geschrieben, das auf dem gleichnamigen Roman von Ermanno Rea fußt. Sich dabei nach eigener Aussage von aktuellen Ereignissen inspirieren lassen,: „Ich war fasziniert von der Idee, einen Film nicht in einer Stadt, sondern in einem Viertel zu drehen, als wäre es ein Schachbrett. Deshalb stammen alle Straßen, Häuser und Personen, die auftauchen, ausschließlich aus Sanità. Das Viertel verbindet alles. Die fernen Jahre, in denen der Film spielt, den Nahen Osten - wo der Protagonist gelandet ist -, die Träume, die Herausforderungen, die Fehler...“

Pierfrancesco Favino – Wiedergänger von Lino Ventura

  • In Italien ist Pierfrancesco Favino ein Star, was die Tatsache belegt, dass er für eine Pasta-Marke Werbung machen durfte.
  • Zuallererst jedoch ist der Römer, Jahrgang 1969, Charakterdarsteller, dank seiner physischen Präsenz – vergleichbar mit Lino Ventura – auch im Action-Kino einsetzbar. Bekanntheit erlangte er 2001 mit Giuseppe Muccinos romantischem Drama „Ein letzter Kuss“, einen nachhaltigen Eindruck hinterließ er im Jahr darauf als Serg. Rizzo in „El Alamein 1942 – Die Hölle des Wüstenkriegs“.
  • Den endgültigen Durchbruch schaffte er 2005 als „Der Libanese“ im Gangsterepos „Romanzo criminale“, hierzulande kennt man ihn als „Boss der zwei Welten“ aus „Il Traditore: Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“.
  • Inzwischen ist er in Hollywood angekommen, war etwa im Mystery-Thriller „Illuminati“, in Marc Forsters „World War Z“ oder Rennfahrer Clay Regazzoni in „Rush – Alles auf Sieg“ zu sehen.
  • Zu den TV-Credits des Juryvorsitzende der Reihe Orizzonti der 69. Filmfestspiele von Venedig zählen der Kriminalfilm „Falcone – Im Fadenkreuz der Mafia“ sowie die Miniserien „Die Kinderklinik“ und „Marco Polo“.
  • Pierfrancesco Favino, der mit seiner Langzeitfreundin Anna Ferzetti („Carlo & Malik“) zwei Töchter hat, wurde bereits zweimal mit dem David di Donatello, dem italienischen Oscar-Äquivalent ausgezeichnet. 

Felice, übersetzt der „Glückliche“, heißt der von Pierfrancesco Favino („Il Traditore: Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“) eindringlich und mit enormer Präsenz gespielt Hauptdarsteller. Ein schweigsamer, sanftmütiger Mann, der nach 40 Jahren im Ausland an die Stätten seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt.

Im Libanon, in Südafrika und zuletzt Ägypten hat er es zum erfolgreichen Bauunternehmer gebracht. Zum Islam ist er konvertiert, spricht fließend Arabisch und kommuniziert via Handy regelmäßig mit seiner Frau (Sofia Essaïdi), die in Kairo zurückgeblieben ist, bis er für sie beide ein passendes Haus gefunden hat.

Sohn pflegt dem Tode nahe Seniorin

Zunächst macht er sich zur Wohnung seiner Mutter Teresa (Aurora Quattrocchi) auf. Die Wohnungstür wird von einer fremden Frau geöffnet, die ihm sagt, dass die Mama ins Erdgeschoss umgezogen sei. Eine erste Irritation, die dadurch verstärkt wird, dass die neue Unterkunft wesentlich schlechter ist als die frühere. Was sie nicht zu stören scheint. Sie gibt vor, zufrieden zu sein.

Zum Umzug hat sie Felices Busenfreund Oreste (Tommaso Ragno) ermuntert - und sie dafür in ihren Augen anständig entlohnt. Das Geld liegt unberührt in einer Schublade. Liebevoll kümmert sich der Sohn um die dem Tod nahe Seniorin, die sich über dessen Rückkehr freut und ob seiner langen Abwesenheit keine Vorwürfe macht.

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Wenn seine Zeit es ihm erlaubt, streift Felice durch die verwinkelten Gassen. Erinnerungen werden wach, festgemacht in kurzen, farbintensiven Flashbacks. In einer Trattoria trifft er auf einen älteren Herren (Nello Mascia), der ihn sofort wiedererkennt. Er war Stofflieferant seiner Mutter, einst begabte Näherin, eine bildschöne Frau, in die er verliebt war.

So sehr, dass er gerne Vater für Felice geworden wäre. Und dann ist da noch der politisch engagierte Priester Don Luigi (Francesco di Leva), den Felice auf der Trauerfeier seiner Mutter trifft. Er kennt Oreste, der zum lokalen Camorra-Boss aufgestiegen ist. Mit ihm hat Felice einst einen Einbruch begangen, bei dem der Hausherr von seinem Kumpel erschlagen wurde...

Drama mutiert zum Kriminalfilm

Aus vielen kleinen Vignetten setzt sich das ruhige Drama zusammen, das langsam zum Kriminalfilm mutiert und ohne vordergründige Action auskommt. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen nahtlos, bedingen einander. Schuld und Sühne sind zentrale Themen. Die Atmosphäre ist spannungsgeladen.

Jugendliche lungern rauchend, laut lachend an Straßenecken herum, brausen auf knatternden Zweirädern durch die Nacht. Schüsse fallen. Felices Wohnung wird verwüstet, sein frisch erworbenes Motorrad, mit dem er an den Strand fährt, angezündet. Er ist nicht willkommen. Will das jedoch nicht wahrhaben. Sucht nach Oreste, um sich mit ihm auszusprechen. Der Pater rät ihm dringend davon ab.

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Die Geschichte eines Mannes zwischen zwei Welten und verschiedenen Gesellschaften. Das Porträt einer Stadt, in der Gewalt und Gefahr omnipräsent sind. Was der Protagonist genau weiß. Wovon gleich eine der ersten Szenen zeugt, in der er seine teure Uhr in seinem Hotelsafe verschließt.

Doch er glaubt, sich hier wohlfühlen zu können. Ruhe zu finden. Positiv blickt er in die Zukunft. Sensibel beobachtet von der beweglichen Kamera des einschlägig erfahrenen Paolo Carnera („Suburra“). Zusammen mit dem sympathischen Helden registriert man jedes Detail, spürt, sieht was er empfindet. „Du bist wohl nostalgisch“, konstatiert die mitfühlende Gattin am Telefon. „Es ist noch alles so wie früher“, antwortet Felice, „ich kann es kaum glauben“. Genau das wird ihm letztendlich zum Verhängnis.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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