Literatur

Krank neben der Welt

Die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuks hat ihr neues Buch „Empusion“ vorgestellt. Wieder nutzt Tokarczuk mysteriöse Elemente, um ihr Anliegen zu verdeutlichen

Von 
Ulrich Steinmetzger
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Im neuen Roman der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk steht ein Sanatorium im Mittelpunkt. © Friso Gentsch/dpa

Als Olga Tokarczuk 2019 den Literaturnobelpreis erhielt, wurde die 1962 geborene Polin für ihre „erzählerische Vorstellungskraft“ gelobt, mit der sie „mit einer enzyklopädischen Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform symbolisiert“. Das als ihr erster Roman danach erschienene „Empusion“ handelt in mehrfacher Weise von solchen Grenzüberschreitungen. Da ist eine Abkehr vom üblichen Tagesgeschäft des Lebens dargestellt als Rückzug in die Männergesellschaft eines Sanatoriums. Diese deutet Thomas Manns „Zauberberg“ auf feminine Weise neu und überschreibt somit eine literarische Obergrenze. Wieder nutzt Tokarczuk mysteriöse Elemente, um ihr Anliegen zu verdeutlichen.

Ihr Hans Castorp heißt Mieczylaw Wojnicz, stammt aus Lemberg und studiert Canalisationstechnik. Er ist am Beginn seiner Zwanziger und erzogen im Geiste des Rationalismus, demzufolge sich auch für die seltsamen Dinge Erklärungen finden lassen. Im niederschlesischen Kurort Görbersdorf wird er mit solchem Denken jedoch an Grenzen kommen. Eigentlich wollte der blonde und blauäugige Pragmatiker, dessen Vorsicht in Lebensdingen obsessive Züge angenommen hat, zur Armee, doch seine kränkliche Konstitution ließ ihn umdenken. Auch ist genug Geld da, so dass er sich wegen seiner kurzen und trockenen Hustenstöße zunächst zur Kur begeben kann.

Positive Aura im Ort

Görbersdorf über den Wassern eines unterirdischen Sees mit seinem Sanatorium für Tuberkulose-Kranke ist kein fiktiver Ort. Hermann Brehmer, der Seminare bei Karl Marx besuchte, begründete die Heilanstalt in der gesunden Luft einer melancholischen Berglandschaft. Manns „Schatzalp“ im schweizerischen Davos wurde nach Gröbersdorfer Vorbild eingerichtet. Hier gibt es keinen Friedhof, damit die positive Ortsaura bleibt, die um die 75 Prozent der Gäste gesunden lässt. Die Toten werden in den Nachbargemeinden begraben. Nur Brehmer wurde in der Krypta der Kirche beigesetzt, damit er seine Anlage im Blick behalten kann und wohl auch die Einhaltung seiner Vorgabe, Kommunisten kostenlos zu behandeln. Trotzdem gibt es hier mittlerweile Kranke erster und zweiter Klasse.

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Der Nachfolger im Roman, Wilhelm Opitz, ist ein undurchsichtiger Typ. Schon am Tag nach seiner Ankunft sieht Wojnicz die Leiche von dessen Frau, die sich erhängt hat. Immer wieder wird es ihn ins Zimmer der Verstorbenen ziehen, wo ein seltsamer Fixierstuhl seine Fantasien auf Abwege bringt.

Oberarzt Dr. Semperweiß ist kein Typ, der das Vertrauen in den Ort konsolidieren könnte, wo sich Berglinien und Fieberkurven ähneln. An seinem Schreibtisch lehnt ein Gewehr, denn die Kurgäste sollen sich wie beim Militär fühlen. Zum Essen wird zudem mit Trompetenstößen gerufen. Seine Behandlungsmethode, mit der er im Unterbewussten gräbt, folgt den Moden der Zeit, die er mit seiner Forschung über den unbefriedigten Sexualtrieb der Frauen, der sie wenigstens hysterisch macht, noch steigert mit der Zielvorgabe an seine Patienten, gegen die Verweichlichung die Mütter in sich zu töten.

Das alles konturiert zwischen Liegekuren und gehstockgestützten Wanderungen die vom süchtig machenden Likör mit dem Namen „Schwärmerei“ angefeuerten Diskussionen der Patienten. Dann geht es um den Untergang des Abendlandes, die fünfte Dimension, das Verschwinden der Mona Lisa aus dem Louvre-Museum oder das gänzlich anders funktionierende Gehirn der Frauen. Irgendwie endet dort jede der selbstdarstellerisch geführten Debatten, weil in diesem Panoptikum der kurenden Männer keiner geschützt ist vor einer ungezähmten Biologie und ihrer Destabilisierung jeder gesellschaftlichen Ordnung.

Verblüffendes Ende

Empusen heißen die mythologischen weiblichen Schreckgespenster, die sich wie Mehltau über die Gedanken der disputierenden Männer legen. In der realen Welt der umliegenden Landschaft finden sie dann im Tun der Köhler eine gespenstische Realisierung, die dem farbenreichen und hintersinnig mit skurrilem Personal möblierten Roman zu seinem verblüffenden Ende verhilft. Hier emanzipiert sich der Text endgültig vom lange mitschwingenden „Zauberberg“-Vorbild.

Freier Autor Ulrich Steinmetzger geboren 1958 in Gera, Abitur, Pädagogikstudium in Halle (Saale), Lehrer, Promotion zum Dr. phil., seit 1987 Arbeit als Lektor (Mitteldeutscher Verlag, Deutsche Verlags-Anstalt, Verlag Janos Stekovics, Wallstein Verlag, Verlag Hermann Schmidt, jazzwerkstatt, Osburg Verlag …) und Herausgeber („Die unter 30“, mit Bernd Dreiocker und Matthias Eisel, „Was wird aus uns?“, „Michel ohne Mütze“ mit Hinrich Matthiesen, „Berlin | Berlin“, mit Ulli Blobel, „Sonne, Mond und Sterne. Über Literatur und Musik“, mit Jürgen Krätzer und Benedikt Viertelhaus), von 1997 bis 2002 Marketing- und Werbekoordinator in einem Industrieunternehmen, seit 2002 freiberuflicher Lektor, Publizist und Journalist, Literatur-, Musik-, Kultur-, CD- und Konzertkritiken für eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, Vorträge, Linernotes, Presse- und Programmtexte für diverse Labels, Künstler und Veranstalter. Lebt in Halle (Saale).

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