Mannheimer Reden

Niejahr sieht Fachkräftemangel als Hauptthema

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Stefan M. Dettlinger
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Diskutiert im Nationaltheater mit Jakob von Weizsäcker: Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung. © Anatol Kotte

Als sie das Telefon abnimmt, sagt sie, sie fahre gerade Auto und müsse erst mal an den Rand fahren. Einiges Rascheln und Rumpeln später grüßt Elisabeth Niejahr freundlich, bittet um Entschuldigung und sagt, sie sei auf dem Weg zum „ersten Frühstücksmeeting“. Das Auto kann also auch zum Arbeitsplatz werden, wie das folgende Gespräch über Kapital, Arbeit und vieles mehr mit dem Gast der Mannheimer Reden an diesem Dienstag im Nationaltheater beweist.

Frau Niejahr, wo sind Sie?

Elisabeth Niejahr: Ich bin in Berlin Mitte zwischen diversen Plattenbauten, irgendwo zwischen Wasser- und Fernsehturm.

Das klingt nach Karl-Marx-Allee.

Niejahr: Genau, nördlich vom Alex.

Dann müssen wir jetzt schnell den Bogen von Marx zur protestantischen Pfarrersfamilie schlagen, in der Sie aufgewachsen sind. Wie hat sie Ihr Verständnis von sozialem Handeln, von Moral und Demokratie geprägt?

Niejahr: Zwei Dinge. Sätze wie „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ haben mich geprägt, zu einer Zeit, als Sozialpolitik in Berlin noch sehr klassisch verstanden wurde als Geld-Ausgeben durch die großen Sozialversicherungen. Ich habe frühzeitig schon für einen vorsorgenden Sozialstaat geworben und gesagt: Bildung und frühkindliche Förderung sind mindestens genauso wichtig.

Und das Andere?

Niejahr: Die andere Dimension ist, dass ich quasi in einem öffentlichen Raum aufgewachsen bin. Pfarrhäuser sind nicht nur Wohnungen, sondern auch Orte der Begegnung. Und das beschäftigt mich jetzt auch wieder: Wo sind eigentlich die Orte, wo diskutiert und gestritten wird?

Das Nationaltheater etwa, und der Abend mit Ihnen ist überschrieben mit „Goldenes Zeitalter der Arbeit“. Folgende Utopie: Für einen Arbeitsplatz zahlt der Mensch künftig Geld. Beim Kauf von Waren ist es umgekehrt, man wird entschädigt. Jeder muss also ausgiebig shoppen, damit er genug Geld hat, um sich das Arbeiten leisten zu können. Am Ende dieser ungeahnten Geldströme steht Vollbeschäftigung. Ein realistisches Szenario für Sie?

Niejahr: Völlig unrealistisch. Ich stehe der ganzen Philosophie des bedingungslosen Grundeinkommens skeptisch gegenüber. Ich verstehe, warum Menschen darüber sprechen. Die Politik muss diesem Bedürfnis auch stärker Rechnung tragen. Wie sieht die Arbeit der Zukunft aus? Was machen wir, wenn die Digitalisierung zu Jobverlusten führt? Warum ist der Sozialstaat so kompliziert? Wieso geben wir so viel Geld aus für Dinge, die an realen Bedürfnissen vorbeigehen? Alles berechtigt. Aber: Nicht jeder richtet sein Leben danach aus, in Vollzeit zu arbeiten. Ich frage mich, wer in so einem Szenario am Ende die Mülltonnen leert und alte Menschen auch nachts um drei Uhr pflegt.

Die Idee stammt aus Ian McEwans Roman „Die Kakerlake“ über Boris Johnson. Aber dass Arbeit zentral zum erstrebenswerten Sinn des Lebens gehört und nicht das Shoppen - fasziniert Sie das nicht?

Niejahr: Absolut, ich glaube auch, dass das auch ein Themenfeld ist, das der Journalismus ziemlich vernachlässigt. Wir haben bei der „Wirtschaftswoche“ einen Podcast gemacht über die Frage: „Wer ist ein guter Chef?“ Es gibt Untersuchungen, wonach die Leute sich täglich mehr Gedanken über ihren Vorgesetzten machen als über ihren Ehepartner, ihre Kinder oder Freunde. Wenn wir von Demokratie reden, so gehört für mich auch immer die Demokratisierung der Arbeitswelt dazu.

Sollen Belegschaften sich ihre Chefs also wählen?

Niejahr: Ich glaube nicht, dass die Belegschaft immer am besten weiß, wer gut führen kann.

Aber das ist doch Demokratie. Auch das Volk irrt sich bisweilen - vielleicht haben die Briten sich mit Boris Johnson und dem Brexit geirrt. Aber es ist demokratisch.

Niejahr: Das kann man nicht vergleichen. Ein Betrieb ist kein Gemeinwesen, es sei denn, er gehört der Belegschaft. Unternehmen sind auf Gewinn ausgerichtete Projekte, und das ist auch gut so. Ich glaube, sonst wären die Deutschen weniger wohlhabend. Trotzdem gibt es bei der Chefrolle ein Spannungsfeld zwischen Boss und Buddy. Dazu gibt es aber keine Verallgemeinerung, da gibt es nur Einzelfälle, autoritär regierende wie Tesla-Chef Elon Musk oder eben ein Chef, der coacht. In jedem Unternehmen sollte es demokratische Elemente geben, etwa eine Feedback-Kultur, in der Mitarbeiter ihren Chef anonym beurteilen.

Tun Sie das bei der Hertie-Stiftung?

Niejahr: Gute Idee, aber ich bin erst drei Wochen dabei. Ich brauche Zeit.

Bei den Mannheimer Reden geht es auch um Kapital und Arbeit. Kapital soll reichlich vorhanden sein, steht auf der Homepage des Nationaltheaters, und die Arbeit werde knapper. Ist das so? Und was hat der normale Bürger davon?

Niejahr: Der Fachkräftemangel wird in seiner Bedeutung noch total unterschätzt. Themen wie Hartz IV und Arbeitslosigkeit, worüber die SPD immer viel streitet, wird in Zukunft ein absolutes Randthema sein, weil die Suche nach Arbeitskräften alles dominiert. Oft, wenn etwas schief geht, ist das Engpässen geschuldet. Die Verspätungen bei der Deutschen Bahn, selbst die der Kanzlerinnenmaschine sind dem geschuldet, dass kein Ersatzteam zur Verfügung stand.

Was sind die Lösungen?

Niejahr: Das über Zuwanderung zu lösen, halte ich für sehr schwierig, aber man kann viel mehr in den Ausbau der Ganztagsbetreuung investieren, Städte wie Fürth machen das vor, wie viel das bewirkt, wenn Betriebe sich engagieren. Und dann flexiblere Arbeitszeiten für die Älteren. Da ist im öffentlichen Dienst und auch in der Privatwirtschaft viel Luft nach oben. Es gibt viele, die im Alter in zweiter Ehe noch Kinder kriegen und mit 70 noch Kinder im Studium haben. Da gibt es sehr viele Motive, länger berufstätig sein zu müssen.

Da das Kapital ungerecht verteilt ist und die Schere zwischen arm und reich immer größer wird - haben wir noch das richtige Wirtschaftssystem oder zu viel Betriebs- und zu wenig Volkswirtschaftslehre?

Niejahr: Die Diskussion darüber findet ja statt. Aber es fehlt der Mut, über unangenehme Maßnahmen zu diskutieren. Da sehe ich auch einen Dissens mit Jakob von Weizsäcker. Die SPD geht das Thema vor allem mit der Vermögenssteuer an, ich glaube aber, wir sollten über eine andere Erbschaftssteuer und auch darüber nachdenken, ob in unseren Sozialsystemen, Stichwort Bürgerversicherung, auch Kapitalerträge herangezogen werden sollten für die Einnahmenakquise. Das Hauptthema sehe ich aber in der Verbesserung von Bildung und Chancengleichheit. Ich sehe da nicht nur die VWL, den Staat und das Wirtschaftssystem gefordert. Die Schulen brauchen, wie in den USA, Bypässe, Angebote von Unternehmen für den Nachmittagsunterricht, Hort- und Ferienbetreuung, einfach, weil wir kurzfristig nicht genug Lehrer und Erzieher finden werden, die das Problem lösen.

Sie sprechen viel über privates Engagement.

Niejahr: Vielleicht ist das der Unterschied zu Jakob von Weizsäcker. Ich freue mich auf das Diskutieren und Streiten mit ihm. Er als Sozialdemokrat sieht eher den Staat in der Pflicht, soziale Ungleichheiten auszugleichen, und Sie sprechen mit einer Marktwirtschaftlerin, die zwar Korrekturbedarf sieht, aber glaubt, dass zur Wohlstandsmehrung unsere Ordnung am besten geeignet ist. Ich will keine Systemdebatte führen.

Bei der Hertie-Stiftung arbeiten Sie im Bereich „Demokratie stärken“. Wie kann eine Stiftung die Grundlagen unseres Zusammenlebens verbessern und damit das demokratische Miteinander?

Niejahr: Wir haben sehr viele unterschiedliche Projekte. Eines der bekanntesten ist „Jugend debattiert“. Da erreichen wir jedes Jahr 200 000 Jugendliche. Streiten, Diskurs, Pluralismus und andere Meinungen aushalten, das sind wichtige Voraussetzungen für die Demokratie. Das muss geübt werden. Dafür steht auch das Format „Deutschland spricht“, das auch der Bundespräsident sehr gelobt hat. Demokratie funktioniert nicht ohne Frustrationstoleranz, die auch schon in der Schule geübt werden sollte. Das unterstützen wir. Ich selbst möchte Projekte in kleineren und mittleren Städten anschieben. Einer meiner Grundsätze lautet: Nicht nur Preaching to the Konverted, also weniger Predigen für den Konvertiten, eher weniger Veranstaltungen in Berlin-Mitte für Leute, die sowieso von der Demokratie begeistert sind, und mehr in der Fläche.

Im Nationaltheater predigen Sie aber auch vor allem für Demokratiebegeisterte…

Niejahr: Aber es ist nicht Berlin-Mitte.

Es gibt eine Krise des demokratischen Miteinanders, aber auch eine der repräsentativen Demokratie in Deutschland. Hat sie den Höhepunkt überschritten und klingt derzeit wieder ab?

Niejahr: Das sehe ich nicht so. Möglicherweise wird Donald Trump in diesem Jahr wieder gewählt, ein Präsident, der nicht gut mit den demokratischen Institutionen seines Landes umgeht. In Deutschland stellen AfD-Vertreter demokratische Grundwerte in Frage und haben damit Erfolg. Weltweit wirken Kräfte stark in Richtung Populismus. Zweifel an der Meinungsfreiheit, sich auseinanderdividierende Öffentlichkeiten - das sind Megatrends in der westlichen Welt, und die Annahme von Francis Fukuyama (US-amerikanischer Politikwissenschaftler, d. Red.), dass sich am Ende demokratische und marktwirtschaftliche Systeme durchsetzen, wird in China infrage gestellt. In vielen afrikanischen Ländern orientieren sich Politiker eher an Asien als am Westen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die westliche Demokratie ein Fixstern ist. Und was ihre Erneuerungsfähigkeit angeht, sehe ich, dass das Problembewusstsein gestiegen ist - das heißt aber nicht, dass genug passiert.

Niejahr und die Mannheimer Reden

  • Elisabeth Niejahr: Die Wirtschaftsjournalistin ist im April 1965 in Eutin geboren. Sie stammt aus einer Pfarrersfamilie, studierte Volkswirtschaftslehre, übernahm 1999 stellvertretend die Leitung des Hauptstadtbüros der „Zeit“, wechselte 2017 zur „Wirtschaftswoche“ und ist seit 2020 Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung.
  • Mannheimer Reden: Ins Nationaltheater Mannheim kommt sie am 28. Januar, 19.30 Uhr, um mit dem Leiter der Abteilung für Grundsatzfragen und internationale Wirtschaftspolitik im Bundesfinanzministerium, Jakob von Weisäcker, über „Ein goldenes Zeitalter der Arbeit?“ zu diskutieren. Die Mannheimer Reden sind ein Forum des NTM und des Heidelberger Bildungs- und Gesundheitsunternehmens SRH. Sie stehen unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters der Stadt Mannheim, Dr. Peter Kurz. Medienpartner ist der Mannheimer Morgen.
  • Info: An der Abendkasse besteht noch die Chance auf Restkarten. 

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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