18 Musiker hätten auf drei Bands verteilt in der Alten Feuerwache um den Neuen Deutschen Jazzpreis (NDJ) spielen sollen. Dass vier davon quarantänebedingt ausfielen, zeigt, dass es für die Musikszene nicht wirklich leichter wird. Da das Olga Reznichenko Trio gleich zweimal betroffen war, musste es komplett absagen. In der Kürze der Zeit war es den Veranstaltern von der IG Jazz Rhein-Neckar und Kurator Lars Danielsson unmöglich, Ersatz zu bestimmen. Deshalb treten am Samstagabend in dem sehr gut gefüllten Mannheimer Kulturzentrum nur zwei Gruppen zum Wettbewerbskonzert an: Bei der Publikumsabstimmung setzt sich eine halbe Stunde vor Mitternacht das Rebecca Trescher Tentet gegen das Felix Henkelhausen Quintett durch und gewinnt den mit 10 000 Euro dotierten NDJ.
Extrem verschieden
Beide bieten Jazz auf höchstem Niveau, so extrem verschieden, dass man nicht mal von einem Vergleich zwischen Äpfel und Birnen sprechen kann. Wenn man das Bild weiter bemüht, handelt es sich bei beiden nicht mal um Obst. Die Klarinettistin Trescher hat für ihr Grande Ensemble mit Harfe, Cello und Vibrafon raffinierte Soufflees komponiert, die temperamentvollen Einzelkönner um den Berliner Bassisten Henkelhausen werfen an seiner lockeren Chef-Leine ihre Lieblingszutaten für brodelndes Gumbo in einen Topf. Beides schmeckt hervorragend. Die Entscheidung ist reine Geschmackssache - und fällt zugunsten der ungewöhnlicheren Formation aus.
Aus Publikumssicht liegt genau darin die Stärke des NDJ, dessen Zukunft nach dieser 15. Auflage mangels finanzieller Unterstützung in den Sternen steht. Aber wo erlebt man an einem Abend live derart unterschiedliche Ansätze? Das von Neuer Musik beeinflusste Piano-Trio Reznichenkos hätte ja noch ganz andere Akzente gesetzt, und die im Jazz Mode gewordenen elektronischen Klänge kamen kaum vor.
Das Tentet aus Nürnberg beginnt seine Stunde getragen. Dem ersten Stück „Verborgen im Wald“ hört man an, dass es von alten Eichen und Spaziergängen im ersten Lockdown inspiriert ist. Auch „Seeking Spider“ wirkt wie Filmmusik, allerdings für wortlose Zeichentrick-Klassiker. Das große Krabbeln der Instrumentalisten setzt sich schnell zu einem beeindruckend konzisen Ensembleklang zusammen, aus dem erstmals ein ausdrucksstarkes Solo des Tenorsaxofonisten Joachim Lenhardt heraussticht.
Die in Tübingen geborene Bandleaderin hat ihr Tentet erstaunlicherweise mit neun Männern komplettiert, die ihre Kreativität auf bis zu drei Instrumenten voll in den Dienst des Kollektivs und von Treschers großartig arrangierten Kompositionen stellen. Die stammen fast alle vom aktuellen Album „Paris Zyklus“, dass die vielfach ausgezeichnete 35-Jährige als Residenzkünstlerin an der Seine geschrieben hat.
Die Paris-Stücke „Gare de L’Est“, „Marais“ und „Lafayette“ beeindrucken nachhaltig. Auch dank herausragender Solo-Ausbrüche von Gast-Saxofonist Uli Wangenheim (statt Markus Harm), Harfenist Anton Mangold am Altsaxofon sowie von Schlagzeuger Silvio Morger und Pianist Andreas Feith, die sich in der Schlussnummer noch schnell für den Solistenpreis ins Gespräch bringen. Aber der kompakte Kollektivklang, der viel von einem Orchester und fast nichts von einer swingenden Big Band hat, ist das Alleinstellungsmerkmal dieser Formation. Im letzten Lied „Lafayette“, über die Reizüberflutung im gleichnamigen Konsumtempel erreicht das Tentett Höchstform, energetisch und ausdrucksstark.
Totales Kontrastprogramm kommt vom Quintett des 26-jährigen Henkelhausen: Der Kontrabassist selbst, der hochexpressive Saxofonist Wanja Slavin, der einst bei Seeed erfolgreiche Tenorist Uli Kempendorff und Drummer Leif Berger wären alle Kandidaten für den mit 1000 Euro dotierten Solistenpreis (den Slavin gewinnt). Ergänzt vom für Elias Stameseder eingesprungenen Pianisten Valentin Gerhardus bringen sie ihre individuelle Qualität ein, um das Material des Albums „Misanthropic Tendencies“ zum Klingen zu bringen - rasant, wild, virtuos dissonant wie in „Plastic Plants And Random Events“ oder mit einem elektrisierend fordernden Gesamtklang, aus dem die Instrumente immer wieder spitz hervorstechen. So etwa im spektakulären „Sketch #5“.
Weltklassebassist Lars Danielsson hatte am Abend zuvor schon gewitzelt, dass er froh sei, nicht in diesem Wettbewerb zu stehen. Aus gut 200 Bewerbungen wurden ihm elf vorgelegt. Daraus drei herauszufiltern empfand er als große Herausforderung. Der Schwede selbst hat mit dem frankokaribischen Pianisten Grégory Privat geglänzt. Den größten Applaus beim Kuratorenkonzert bekam das extrem spielfreudige Duo für ein Lied mit Ukraine-Bezug: „Lviv“ habe er vor vier Jahren in Lwiw (das einstige Lemberg) mit Sinfonieorchester gespielt. Der fast poppig strukturierte Song ist ein Stück weit typisch für die Kompositionen des 63-Jährigen, der als Student vom klassischen Cello zum Jazzbass konvertierte. Die Strukturen fasern selten komplett aus, zumindest klassische Anflüge tauchen immer wieder auf. Noch eine Spielart.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Noch kein Ende der Kulturkrise