Heidelberg. Lassen wir die Worte, die Reden und das Motto mal weg, die allesamt beim Heidelberger Frühling traditionell eine große Rolle spielen, ja, ihn gewissermaßen veredeln, denn hier müssen wir erst mal durch die Rennstrecke eines spektakulären virtuellen Spiels: Also rasen wir über den Asphalt und vorbei an den Ferraris, Porsches oder Aston Martins, vorbei an all den gefährlichen Kurvenabfolgen, vorbei an Schikanen und Tribünen, auf denen Männer und Frauen in adretten Roben die Köpfe nach uns Rasenden drehen. Boxenstopp: eine Rarität. Das Metronom zeigt Zahlen an die 200. Bögen fliegen. Saiten schnarren, kratzen und schnalzen. Denn natürlich ist, was in der Aula der Neuen Universität zu Heidelberg passiert, „nur“ ein Musikstück mit dem Namen „Gran Turismo“, was so viel bedeutet wie: „Große Fahrt“.
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Musik im GT-Format, das hat der Amerikaner Andrew Norman hier für acht Violinen geschrieben. Und wer den Titel des Werks vielleicht nicht vorher gelesen hat (weil die Brille verlorenging), ist im Vorteil, ist Normans geschrubbter, gezupfter und gestrichener Schredder-Orkan doch gar nicht so banal wie das, was sich zeigt, wenn Männer in heißen Kisten im Kreis fahren und manchmal einer in Flammen aufgeht. Musik, zumal gespielt wie von den sieben jungen Damen und dem jungen Mann wie hier, ist am Ende dann eben doch im Vorteil: Geist statt nur bewegter Materie.
Video über das Festivalcampus-Ensemble:
Ich + Ich = Wir
Wow! Was für ein aufregender Start in diesen Frühling! Und was für ein mutiger! Nicht ein illustres Orchester oder Ensemble steht auf der Bühne, kein bekannter Dirigent, keine ach-so-schöne Geigerin, die in Skandinavien bekanntlich auf Bäumen wachsen. Kein Sibelius. Kein Brahms. Kein Beethoven. Nein: Andrew Norman, der noch nicht mal einen deutschen Wikipedia-Eintrag hat (dort ist ein Snooker-Spieler zu finden), zudem ein eigens gegründetes Festivalcampus-Ensemble, das scheinbar demokratisch funktioniert und in dem jeder Verantwortung übernimmt.
Die Macher des Heidelberger Frühlings, Intendant Thorsten Schmidt und Co-Leiter Igor Levit (im Nebenberuf auch Pianist, wie er selbst witzelt), stellen denn auch fest: Die jungen Leute da erreichen zusammen mehr denn als Individuen. Klar, das ließe sich über jede Rockband sagen. Trotzdem stimmt es.
Es ist ja auch das Motto des Festivals. Zusammen. Ein Angriff auf unsere durch und durch individualistische und egoistische Gesellschaft. Das Produkt aus vielen Ichs ist Wir. Und zusammengenommen ist auch diese Eröffnung wieder mehr als ein Konzert. Es ist ein Happening mit Videoeinspielung, mit kleinen Pannen, Pech und Pleiten, vergessenen Würdigungen und locker verstandenem Protokoll. Sympathisch einfach. Und einer Gesellschaft angemessen, die sich in den vergangenen 20, vor allem aber auch in den vergangenen fünf Jahren, dramatisch verändert hat.
Wie wäre es mit ein paar Jahren ohne 18. und 19. Jahrhundert?
Dazu mag dann plötzlich Mozarts Sinfonie Concertante (KV 297b) nicht mehr so recht passen, es ist - Musik aus einer anderen Zeit, obwohl Augustin Gorisse (Oboe), Martin Fuchs (Klarinette), Andreas Becker (Horn) und Johannes Hund (Fagott) alles Virtuose tun, um dieses Werk, was gewiss nicht zu Mozarts stärksten gehört, noch etwas leben zu lassen. Vieles gelingt sehr gut, der moderne und eben doch historische Stil gehört genauso dazu wie makelloses Zusammenspiel im Quartett. Dennoch hat das Werk zu viel Leere. Bei Mozart ist das schon sehr selten zu finden.
Da sind Ligetis Bagatellen schon gewitzter, nicht nur, weil dann Alexander Koval mit Flöte und Piccolo das Solistenensemble zum exzellent agierenden Quintett macht, das zeigt, woher der spätere Ligeti der Postmoderne ab den späten 1970er Jahren herkam: vom jungen Ligeti. Das sind einfach sehr witzige Stücke voller Esprit. Zum Schluss: Schönbergs „Verklärte Nacht“, das einzige Werk, das von Schönberg vielleicht einmal übrigbleiben wird. Leider. Es ist sein konservativstes. Gut gespielt wurde es vom jungen Ensemble unter Charlotte Thiele an der Ersten Geige dennoch. Insgesamt hat das Konzert jedenfalls mächtig Lust darauf gemacht, das 18. und 19. Jahrhundert einfach mal ein paar Jahre sein zu lassen und exklusiv 20. und 21. Jahrhundert zu spielen und zu hören. Musik von heute. Das wäre was. Da müssten wir aber alle gut zusammenhalten.
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