„Ich glaube an die Möglichkeit der Veränderung zum Guten“

Thorsten Schmidt, Intendant des heute beginnenden Musikfestivals Heidelberger Frühling, über das Motto „Zusammen“, über eine Gesellschaft mit einer stetig abnehmenden Diskurskultur und die Zusammenarbeit mit Deutschlands derzeit erfolgreichstem Pianisten

Von 
Stefan M. Dettlinger
Lesedauer: 
Doppelt an der Spitze des Heidelberger Frühlings: Pianist Igor Levit und Intendant Thorsten Schmidt. © Felix Broede

Thorsten Schmidt sitzt im Badischen Hof in Mannheim-Seckenheim. Er wirkt entspannt, wie er so im Rollkragenpulli am Fenster sitzt – entspannt, obwohl das größte Musikfestival des Landes, dessen Intendant er ist, mit Macht angerollt kommt. Am 17. März geht es in der Ersatzspielstätte Neue Aula der Universität los. Mit Igor Levit und dem Festival-Campus-Ensemble. Der Espresso steht da. Die Sonne scheint. Das Aufnahmegerät läuft.

Herr Schmidt, der Festbeitrag von Igor Levit und Ihnen fürs diesjährige Festival zum Thema „Zusammen“ endet mit: „Kommen Sie vorbei, machen Sie mit“. Was ist da gemeint? Kann ich was für Sie tun?

Thorsten Schmidt: (lacht) Helfen immer gerne. Das Mitmachen bezieht sich darauf, ein Teil der Festivalfamilie zu werden. Wir schaffen einen sozialen Ort auf Zeit. Beim Abo-Konzert trifft sich das Publikum alle paar Wochen einmal. Bei uns täglich. Da entsteht eine Intensität und Gemeinschaft, die erlaubt, sich über das Gehörte und Erlebte auch auszutauschen.

Und Sie sprechen so vieles an: politische Krisen, globale Chancengleichheit, technologischen Fortschritt, Freiheitsrechte, der Klimawandel bleibt ausnahmsweise mal außen vor – ist das nicht ein bisschen viel für ein Musikfestival, müsste der Untertitel „Musikfestival“ mal überdacht werden?

Schmidt: Wir sind ein Musikfestival, und wir bleiben ein Musikfestival. Was wir über all die Jahre gemacht haben, war ja, die Musik in dem Kontext ihrer Entstehung zu sehen. Die entsteht ja nicht im luftleeren Raum, die Interpretinnen und Interpreten interpretieren auch nicht kontextlos. Was wir tun, entsteht immer unter aktuellen Einflüssen. Wir fragen immer: Wie sind die gesellschaftlichen Umstände? Wir sind in einer Transformationsphase, die uns einiges abverlangt. Und was kann unser Beitrag als Musikfestival dabei sein?

Sagen Sie es mir!

Schmidt: Ich erlaube mir eine ganz persönliche Perspektive. Mein Eindruck ist der einer stetig abnehmenden Diskurskultur. Nach dem Motto, wer nicht meiner Meinung ist, hat die falsche Meinung. Das ist fatal. Es sollte eher darum gehen, die richtigen Frage zu stellen und sich gegenseitig zuzuhören. Im Festival steht die Kommunikation im Zentrum. Der Austausch. Musik öffnet Kommunikationsräume. Sie lädt ein zum Austausch über das Gehörte und gibt den Freiraum, vielleicht sogar auch heftig zu diskutieren. Das ist gemeinschaftsstiftend. Wenn dieses Gefühl des Zusammenhalts über das Festival hinausträgt, dann bin ich zufrieden. Dann können wir gemeinsam auch etwas bewegen.

Das Wort Musik, die ja doch die Hauptrolle spielt, kommt zwischen Ihnen und Levit nur einmal pur vor. Als alter Zahlenfetischist: Es sind nur 0,04 Prozent des Textes.

Schmidt: Na ja, auf den vielen Seiten danach geht es ja nur noch um Musik. Die Einleitung will ja nur ins Thema „Zusammen“ einführen. Wir vertrauen auch dem Publikum, sich auf den Seiten danach zurechtzufinden.

Es ist bekannt, dass Sie die Welt verbessern wollen. Das will ich auch. Insofern: Wir sind zwei Idealisten. Woher nehmen Sie – ganz persönlich – diese endlose Hoffnung, dass Ihnen mit dem Heidelberger Frühling gelingt, was Religionen, Philosophien, Staatsformen und Schulen nicht gelang?

Schmidt: Ich habe einen unerschütterlichen Glauben an die Möglichkeit der Veränderung zum Guten aus der eigenen Erfahrung der langen Zeit der Festivalarbeit in Heidelberg heraus: Ich glaube, Veränderung findet auf der kleinsten, engsten, also auf der kommunalen Ebene statt. Sie können hier im direkten Dialog mit den Menschen etwas bewirken und wirklich Gemeinschaft stiften. Als wir mit dem Festival begonnen haben, haben wir uns gesagt: Wenn wir nur einen einzigen Menschen davon überzeugen, aktuelle Musik gut zu finden, dann wird er im nächsten Jahr zu zweit und im übernächsten zu viert wiederkommen. „Welt verbessern“ klingt naiv. Aber unser aller Aufgabe ist es doch, die Chance, die jede und jeder Einzelne hat, die Welt, wenn auch nur im Nanobereich zu verbessern, zu nutzen.

Ihr Beispiel zur aktuellen Musik werde ich deutschlandweit verbreiten: „Intendant sieht bei der Neuen Musik exponentielles Publikumswachstum“ …

Schmidt: (lacht) Trifft ja leider nicht zu. Spätestens der Dritte sagt ja: Ich gehe da nie wieder hin und erzähle das auch meinem Nachbarn. Das verhindert das exponentielle Wachstum. Rechnen Sie also mal das Wachstum mit einem Glättungsfaktor. Das Ergebnis ist ein ziemlich großer Erfolg.

Igor Levit ist ein wacher Zeitgenosse, der zu fast allen gesellschaftlichen und politischen Dingen seine Meinung äußert, er ist, wie er selbst sicherlich betonen würde, in erster Linie ein Mensch der Gegenwart. Seine Kernkompetenz bleibt aber doch die Musik. Sie machen jetzt die Führung zusammen. Wird sich dadurch programmatisch noch mehr ändern?

Schmidt: Ich bin mir sicher. Wir zwei leben vom Austausch. Zum einen sind wir uns ja programmatisch sehr nah. Deswegen machen wir das auch zusammen. Ich wollte für den „Frühling“ auch eine andere und jüngere Perspektive. Diese Perspektive von Igor halte ich für genauso wichtig wie das, was er als Künstler am Klavier für die Entwicklung des Festivals einbringen kann.

Thorsten Schmidt, der Heidelberger Frühling und das Eröffnungskonzert

  • Thorsten Schmidt: Der Intendant und Gründer des 1997 erstmals ausgetragenen Heidelberger Frühling ist 1962 in Oldenburg geboren und Volkswirt. Der ehemalige Orchesterdirektor des Philharmonischen Orchesters Heidelberg gründete 1997 den Heidelberger Frühling, übernahm 2000 den Kulturservice Heidelbergs und hatte lange davor mal einen Traum: Sänger werden.
  • Heidelberger Frühling: Vom 17. März bis 15. April stehen unter dem Motto „Zusammen“ 85 Konzerte an 25 Spielorten in Heidelberg auf dem Programm. Das Musikfestival startet damit in eine neue Ära: Es ist der erste Jahrgang mit dem Pianisten Igor Levit als Co-Künstlerischem Leiter an der Seite von Intendant Thorsten Schmidt. Es ist – planmäßig – der vorletzte Jahrgang außerhalb der Stadthalle, die saniert wird.
  • Eröffnungskonzert: Die Bühne des Eröffnungskonzerts gehört neben den beiden Künstlerischen Leitern Thorsten Schmidt und Igor Levit, die die Saison 2023 eröffnen und das Konzertpublikum begrüßen werden, dem jüngsten Ensemble des Festivals: dem Festivalcampus-Ensemble, das sich speziell für den Heidelberger Frühling 2023 formiert. Auf dem Programm stehen Werke von Andrew Norman, Wolfgang Amadeus Mozart, György Ligeti und Arnold Schönberg.
  • Info/Karten: 06221/584 00 44.
  • Im Netz: heidelberger-frühling.de

Sie haben doch eine Künstlerseele.

Schmidt: Das stimmt, hoffe ich. Aber ich bin kein Künstler und habe einen anderen Zugang zur Musik. Mein Raster der Weltbeobachtung ist ein anderes. Insofern: Wie wir programmieren, wie wir Formate schaffen und mit Künstlern umgehen, wen wir zusammenbringen wollen und in welchen Kontext wir diese Ideen setzen, wird in den nächsten Jahren sicherlich das Festival ändern. Diese erweiterte jüngere und künstlerische Perspektive ist wichtig, um mit unserer Arbeit am Puls der Zeit bleiben zu können.

Sie betonen immer, dass Sie sich an Levit reiben. Wo sind denn Ihre Meinungsverschiedenheiten?

Schmidt: Wir haben einen echten demokratischen Prozess. Wir nehmen Argumente des anderen auf, gehen damit um, nähern uns an. Die Reibung entsteht durch den sehr intensiven Austausch. Es gibt da auch Momente, in denen wir sagen: Okay, wir kommen an diesem Punkt nicht zusammen …

Schmidts Telefon klingelt. Er zeigt mir das Display: Es ist Igor Levit.

Schmidt: … und wenn wir nicht zusammenkommen, dann versuchen wir, einen Kompromiss zu finden.

Machen Sie mal ein Beispiel.

Schmidt: Kann ich nicht. Wir rennen nicht gegeneinander, sondern suchen den gemeinsamen Weg vom ersten Gedanken an. Den Ansatz des Rechthabens gibt es im Dialog zwischen uns beiden nicht. Wir hören zu, suchen einen gemeinsamen Weg und entwickeln ihn weiter. Wenn wir also bei einer Frage nicht zusammenkommen, wie etwa bei programmatischen Ideen, machen wir daraus eine gemeinsame neue Idee.

Eines der schönsten Formate waren ja die Late-Nights im Hallenbad. Hat das funktioniert, junge und andere Leute – sagen wir – an Schubert zu gewöhnen?

Schmidt: Teils. Mehrheitlich war es aber doch unser Stammpublikum. Wir haben aber einen neuen Ort für uns entdeckt: das Dezernat 16 in der Alten Feuerwache, wo früher auch mal das Theaterzelt stand. Und dieser Ort zieht auch jüngere Menschen an. Damit gehen wir ganz bewusst um – mit diskursiven Formaten. Ein junges Publikum muss einen Ort für sich entdecken und definieren. Und das Dezernat 16 ist des Bürgerlichen unverdächtig und frei.

In den Konzerten spielen viele „Ideale Ensembles“, wie ein Label des Festivals heißt. Sogar ein Festivalcampus-Ensemble gibt es. Das sind ja lauter selbst organisierte „freie“ Orchester. Die großen Namen an Kulturorchestern und Dirigenten fehlen. Ist das nur dem Spielen in Ersatzspielstätten geschuldet oder auch über diese Zeit hinaus ein Thema?

Schmidt: Das stimmt. Wir sind sehr glücklich mit der Alten und Neuen Aula der Universität Heidelberg. Aber große Orchester und manche Solisten können wir dorthin nicht einladen. Das macht wenig Sinn. Deswegen arbeiten wir jetzt vor allem mit Kammerorchestern. Und wo Sie es schon ansprechen: Diese „Idealen Ensembles“ sollen keine Konkurrenz sein zu den großen Orchestern.

Mehr zum Thema

Kein Platz für Rassismus

Orchesterchefin: "Wir müssen zuerst unser Unwissen anerkennen"

Veröffentlicht
Von
Stefan M. Dettlinger
Mehr erfahren
KulTour

Unsere Kulturtipps der Woche: Endlich wieder Frühling - und selbst David Garrett spielt ganz klassisch

Veröffentlicht
Von
Martin Vögele und Jörg-Peter Klotz
Mehr erfahren

Man könnte es aber so verstehen.

Schmidt: Uns geht es hier um etwas Anderes. Das ideale Ensemble bezieht sich ja auch auf die Kammermusik. Schauen Sie sich die Idee des Festivalcampus-Ensembles an. Es geht hier um die Frage der Vereinbarkeit von solistischen Aufgaben in kleineren Besetzungen und der Notwendigkeit des Zurücktretens hinter den Ensemblegedanken wie etwa beim Eröffnungskonzert. Genau das prägt ja auch die Arbeit von Kammerorchestern. Insofern ist die Sanierung der Stadthalle für das Publikum und uns eine Chance, andere und ganz herausragende Orchesterformationen kennenzulernen. Wenn die Stadthalle dann wieder geöffnet ist, werden wir fantastische Bedingungen für die großen Orchester haben.

Wann werden Sie wieder in der Stadthalle spielen können?

Schmidt: Nach heutigem Stand werden wir den Heidelberger Frühling 2025 wieder in der Stadthalle feiern können. Wir freuen uns schon jetzt darauf.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen