Mannheim. Luigi Toscano fährt Fahrrad und stellt sich vor. Es folgt eine einfühlsame Musik, und dann: „Arbeit macht frei“, der über dem Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz stehende Zynismus in Worten. Toscano geht durch den Eingang – und forscht. Er hat bei seinen Untersuchungen erreicht, was Anna Strishkowa nicht geschafft hat: etwas über ihren Aufenthalt in Auschwitz herauszubekommen, von dem die 81-jährige Mikrobiologin aus Kiew noch das tätowierte Andenken auf dem Unterarm trägt: die Häftlingsnummer 69 929.
Herr Toscano, wer ist Anna?
Luigi Toscano: Anna Strishkowa ist eine Ukrainerin, die ich am Beginn meines Projekts „Gegen das Vergessen“ kennengelernt und porträtiert habe. Ihre Geschichte hat mich schon damals sehr beeindruckt und nicht mehr losgelassen …
Warum speziell die von ihr?
Toscano: Mich hat sie beeindruckt und gleichzeitig unendlich traurig gemacht. Als Kind war sie im Konzentrationslager und ist nach dem Krieg adoptiert worden. Sie kann sich kaum an ihre Kindheit erinnern. Eine Erinnerung ist, dass sie für medizinische Versuche missbraucht wurde. Später hat sie sich ihrer Angst vor Ärzten gestellt und ist selbst Ärztin geworden. Das hat mich stark beeindruckt. Ich wollte Spuren ihrer Familie finden und irgendwie dazu beitragen, dass ein Bild entsteht …
Mannheimer Fotograf Luigi Toscano
- Die Anfänge: Sich selbst beschreibt Luigi Toscano, geboren am 9. Mai 1972 in Mainz, als „Spätberufenen mit bewegter Vergangenheit“. Der heute in Mannheim Lebende arbeitete als Dachdecker, Türsteher und Fensterputzer. So erlebte der Sohn italienischer Gastarbeiter seine Umwelt aus unterschiedlichsten Perspektiven.
- Die Kunst: Dass er heute Kunst macht, wollte er bis vor etwa acht Jahren nicht so recht glauben. Er sei der, der fotografiert, sagte er – er sei Luigi, das würde ihm reichen.
- Der Erfolg: Dann kam 2015 der weltweite Erfolg mit seiner Bilderserie „Gegen das Vergessen“mit Fotografien von Holocaust-Überlebenden. Die meist im Freien gezeigte Ausstellung ging um die ganze Welt und hat in Wien für Negativschlagzeilen gesorgt: Dort wurden die Fotografien von Juden, Sinti, Roma und anderen, die das Nazi-Regime verfolgte, von Unbekannten zerschnitten.
- Der Film: Nun folgt „Anna“, sein erster Film, der nicht sein fotografisches Schaffen dokumentiert.
Jetzt muss man ja auch von Bildern sprechen. Sie haben einen Film gedreht. Ist Ihnen plötzlich das einzelne Bild, das für Sie ja immer gegen das Vergessen stand, nicht mehr ausreichend, um die Geschichten zu erzählen?
Toscano: Ich würde sagen, hinter jedem Bild steht eine individuelle Geschichte. Wenn ich könnte, würde ich jede erzählen … Die Leidenschaft, eine Geschichte zu erzählen, bleibt die gleiche – ob mit 24 Bildern pro Sekunde oder nur mit dem Auslösen eines einzelnen Bildes …
Ihre Kunst der Geschichtserzählung und -Mahnung bewegt sich im Grunde ja auf einem schmalen Grat: Zum einen ist es wahnsinnig wichtig, dass wir nicht vergessen, zum anderen schwingt bei Kunst, die aus Leid entsteht, auch immer ein bisschen mit: Da schlägt jemand Kapital aus der Leidenserzählung. Haben Sie diesen Vorwurf schon einmal gehört?
Toscano: Nein, bisher noch nie. Ich lebe auch nach wie vor mit meiner kleinen Familie in einer GBG-2-Zimmerwohnung in Mannheim-Herzogenried, und wir sind auch ziemlich glücklich damit. Ich bin nach wie vor sehr dankbar für das, was ich in den letzten acht Jahren tun durfte und konnte, und auch, dass ich mit meiner Kunst weltweit Beachtung finde. Das bestätigen auch die vielen Rückmeldungen, die ich von den Porträtierten bekomme. Da fühlt sich niemand ausgenutzt. Zuletzt hat mir die Holocaustüberlebende Rita Rubenstein aus Washington liebe Worte zu meinem Filmprojekt geschickt.
Zu wie vielen leben Sie in dieser Zweizimmerwohnung?
Toscano: Ich korrigiere: Es ist eine Dreizimmer-Wohnung, und wir leben dort zu dritt.
Zurück: Wo wird der Film über „Anna“ zu sehen sein?
Toscano: ARD und ARTE zeigen großes Interesse. Im Februar kommen sie zu mir nach Mannheim. Danach wollen Sie entscheiden. Zusätzlich werden wir den Film übrigens auch auf internationale Filmfestivals weltweit einreichen.
Der Holocaustgedenktag ist ja heute, am 27. Januar. Wäre das nicht der ideale Tag gewesen?
Toscano: Der Film ist halt leider noch nicht ganz fertig. Wir arbeiten noch daran. Es entstehen auch um das Projekt herum noch einige Sachen wie beispielsweise ein Buch, das parallel zum Film erscheinen soll. Es ist ein erzählendes Sachbuch in Zusammenarbeit mit der Journalistin Antonia Munding und dem Literaturagent Ernst Piper.
Ah, ich verstehe, den Trailer gibt es schon vor der Fertigstellung. Darin fahren Sie ja mit dem Fahrrad nach Auschwitz und gehen unter dem berühmten Schriftzug „Arbeit macht frei“ ins Konzentrationslager Auschwitz hinein. Wie hat sich das für Sie angefühlt?
Toscano: Dass die Dreharbeiten in Auschwitz stattgefunden haben, war für mich persönlich eine emotionale Herausforderung – auch die Fahrradfahrt vor Ort für das Intro im Film war sehr emotional. Die Arbeit im Archiv, das Lesen von unzähligen Akten, Namen und Todesfolgen haben mich sehr traurig gemacht. Ich musste oft aufpassen, dass ich mich im Griff behalte und nicht losheule. Ich hasse diesen Ort. Aber er ist einer der wichtigsten Gedenkorte auf der ganzen Welt.
Mussten Sie wegen Anna Strishkowa nach Auschwitz?
Toscano: Ja, hier begann meine Spurensuche, und hier fand ich auch ein wichtiges Indiz. Im Konzentrationslager Auschwitz fand ich Annas richtige Nummer, Annas Familienname und ihr Geburtsdatum.
Hatten Sie eigentlich jemals Probleme, dass sich die Menschen, die Opfer wurden, geweigert haben, vor Ihre Kamera zu treten? Und wie war das bei Anna, als sie erfuhr, dass Sie einen Film über sie machen wollten?
Toscano: Ich hatte einmal die Erfahrung machen dürfen, dass jemand nicht wollte, weil er zu sehr Angst hatte, in der Öffentlichkeit wiedererkannt zu werden und dass ihm dadurch etwas passieren könnte. Bei Anna war es so, dass sie anfangs nicht wollte. Sie meinte, man würde sowieso nichts über sie finden. Sie meinte, die Chancen stünden eins zu einer Million. All die Jahre hat sie selbst versucht, etwas herauszufinden. Warum sollte es bei mir anders sein! Letztendlich war es ihre Tochter Olga, die sie überzeugte. Olga selbst leidet unter der sogenannten Traumaübertragung. Sie wollte endlich, dass sie keine Alpträume mehr hat. Somit habe ich, vier Monate, bevor Russland die Ukraine überfallen hat, die Erlaubnis von Anna bekommen.
Sind Olgas Alpträume jetzt weg?
Toscano: Olga erzählte mir vor kurzem, dass ihre Alpträume bezüglich ihres Traumas milder geworden sind. Aber der Krieg fabriziert allgegenwärtig neue Alpträume.
Und wann glauben Sie, dass man den Film nun sehen kann?
Toscano: Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass das Gespräch und die Entscheidung mit ARD und Arte positiv sein wird. Ich denke, wenn alles gut geht, kommen wir im Sommer damit raus.
Was passiert bis dahin? In Mannheim ist BUGA. Was machen Sie?
Toscano: Ich werde mit meinem Team viel Zeit mit der Finalisierung des Films zu tun haben. Parallel gibt es ja noch die Ausstellungen, die laufen. Weiterhin werde ich Überlebende porträtieren. Auf die BUGA freue ich mich tatsächlich sehr. Gemeinsam mit meiner Tochter bin ich sehr gespannt, wie es ist, mit der Seilbahn zu fahren.
Ihre Bilder gegen das Vergessen wurden ja eigentlich immer Open Air gezeigt. Wäre die BUGA nicht eine Möglichkeit gewesen, ein Millionenpublikum zu erreichen? Oder sind Sie der Meinung, dass das Thema dort falsch platziert wäre, weil es zu ernst ist?
Toscano: Es gab auch schon Kombinationen drinnen und draußen. Ich fände es gut, die Ausstellung dort zu zeigen. Aber letztendlich müssen Sie die Verantwortlichen fragen, ob sie den Willen, den Kontext und den Mut dazu haben.
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