Erinnerungskultur

Luigi Toscano am Moll-Gymnasium: Holocaust-Überlebende und der Krieg in der Ukraine

Mit Teenagern über den Holocaust reden. Lugi Toscano war zu Gast am Moll-Gymnasium in Mannheim-Niederfeld. Er sprach über seine Fotos, die Holocaust-Überlebende zeigen und über einen denkwürdigen Vorfall in Österreich

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Konstantin Groß
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Anerkennung außergewöhnlichen Engagements: Luigi Toscano (11. v. r.) inmitten seiner Ausstellung am „Moll“ mit den Schüler-Scouts und Lehrkräften. © Konstantin Groß

Mannheim. Christoph Höger hat in seinen bald 24 Jahren als Lehrer am Moll schon viel erlebt. Doch nach diesem Dienstagmittag, da bekennt der stellvertretende Schulleiter: „So was habe ich selten gesehen.“ 60 Schülerinnen und Schüler, zwischen 14 und 18, im besten Teenie-Alter also, ohne Pause zwei Schulstunden, sprich 90 Minuten in Echtzeit, ruhig, ja konzentriert, man darf sagen: gebannt.

Nicht ohne Grund: Im Raum 11 ist Luigi Toscano zu Gast, Autor der Ausstellung von Fotos Überlebender des Holocaust, die derzeit am Moll zu sehen ist. Toscano ist gekommen, um über sein Projekt zu diskutieren. Gespannte Erwartung, wie das wird.

Toscano hat Draht zu Jugendlichen

Um es gleich zu sagen: Es wird! Der Rahmen erleichtert das Anliegen. Im Saal gibt es kein Podium, Toscano sitzt mit dem Publikum auf Augenhöhe, an einem der Tische, wie sie in der Schule üblich sind. Darauf eine Tasse Kaffee und ein Schälchen Gebäck. Dass es hier nicht um ein Kaffeekränzchen geht, daran mahnt unübersehbar das von ihm fotografierte überlebensgroße Bild zu seiner Rechten: Anna Strishkowa, die als Kind Auschwitz überlebt hat.

Fotograf mit Botschaft

  • Luigi Toscano wurde 1972 als Sohn sizilianischer Gastarbeiter in Mainz geboren. Seit vielen Jahren lebt er in Mannheim.
  • Für das Projekt „Gegen das Vergessen“ fotografierte er seit 2015 mehr als 400 Überlebende des Holocaust und zeigt diese Fotos in großen Formaten.
  • Ausstellungsorte waren u. a. bei der UNO in New York und in vielen anderen US-Städten, in Paris und Wien, auf acht deutschen Bahnhöfen sowie an vielen Schulen, bis 25. November noch am Moll-Gymnasium.
  • Ehrungen: 2021 Ernennung zum „Artist for Peace“ durch die Unesco sowie Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland durch Bundespräsident Steinmeier. 

Doch ungeachtet der Schwere der Thematik findet der Künstler sofort einen Draht zu seinem Publikum. Hier sitzt kein abgehobener Gelehrter. Schon die Kleidung lässt keine Schranke zu den Jugendlichen entstehen: silberfarbene Sportschuhe, Anorak, Mütze, die er auch nicht abzieht - so, wie es viele hier oft tun. Auf dem Handrücken bannt ein Tattoo manche Blicke. Vor allem jedoch spricht er die Sprache des Publikums. Nie dozierend, obwohl er eine der gravierendsten Botschaften verkündet, die es gibt: Zeigt Haltung!

Es gibt auch keinen einleitenden Vortrag, vielmehr geht es gleich los mit Fragen. Und man merkt, dass die Jugendlichen vorbereitet sind. Keine einzige der Wortmeldungen ließe sich plump nennen. Aber viele artikulieren ehrliches Interesse.

Bewegende Gespräche

Wie findet er die Menschen? Sind sie bereit, sich fotografieren zu lassen? Kontakte zu ihren Netzwerken helfen, berichtet Toscano. Die Reaktionen? Unterschiedlich. Manche sind zum Foto bereit, möchten ihren Namen aber nicht veröffentlicht sehen. „Andere sagen: Du kannst alles von mir haben, nur nicht meine Geschichte.“ Noch immer können sie über das Erlittene nicht sprechen.

Wie verlaufen die Gespräche? Ebenfalls ganz unterschiedlich. „Sie haben Unsagbares erlebt, keiner ist ohne Trauma“, spürt Toscano. Und zuweilen genügt ein kleines Wort, um es aufbrechen zu lassen. „Manche fangen mitten im Gespräch an zu schreien.“ Andere können nicht weiterreden. Ihr Körper versagt sich.

Toscano am „Moll“, neben ihm das Bild der KZ-Überlebenden Anna Strishkowa. © Konstantin Groß

Was macht das mit dem, der gegenübersitzt? - gleich mehrere Fragen gehen in diese Richtung. Und sie treffen einen wichtigen Punkt. „Anfangs bin ich naiv daran gegangen“, räumt er ein: „Dachte, ich rede mit ihnen und mache mein Foto.“ Doch der Schrecken dessen, was er hört, lässt ihn nicht los: „Oft dachte ich: Ich pack‘ das nicht mehr“, bekennt er: „Ich bin selbst krank geworden“. Hörsturz, anderes Psychosomatisches. Professionelle Hilfe richtet ihn wieder auf. Und die Erkenntnis, dass seine Arbeit doch wichtig ist.

Negative Reaktionen? Natürlich. „Keine Morddrohungen zwar“, sagt er, aber Mails wie „Verpiss Dich!“. Und Provokationen, wenn etwa ein AfD-Funktionär ihn im Angesicht der Fotos fragt: „Warum fotografieren Sie keine blonden Menschen?“

Fragen zum Ukraine-Krieg

Wie geht er damit um? Hat er mal daran gedacht aufzuhören? Ja, als die Ausstellung in Wien zum dritten Mal zerstört wird und die Polizei sich weigert zu kommen. Da postet er auf Facebook: „Was ist los mit Dir, Österreich?“ Doch die Reaktion ermutigt ihn: Viele junge Menschen melden sich, helfen zu reparieren. Bundespräsident van der Bellen kommt vorbei: „Ein eindrucksvoller Mann.“

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Überhaupt hat er einige Polit-Promis getroffen. „Die sind nicht anders als wir“, versichert er den Jugendlichen vor ihm: „Die ticken wie wir auch.“ Welch sympathischere Werbung für Repräsentanten unserer Demokratie kann es geben?

Aktuelle Frage zum Ukraine-Krieg. Toscano antwortet mit einem Zitat von Anna, der KZ-Überlebenden in Kiew: „Russische Truppen befreiten uns aus Auschwitz. Nun versuchen sie, uns zu töten.“ Ein kleiner Satz, der doch alles sagt.

Man spürt: Toscano geht es um das Heute und Morgen, um die Generation, die vor ihm sitzt. „Es geht um mehr als um Erinnerungskultur“, sagt er: „Es geht um Haltung!“

Eine Neuntklässlerin überreicht ihm am Ende eines der Bilder, die im Unterricht auf Basis seiner Fotos gezeichnet wurden. Im Angesicht des Publikums zückt er sein Smartphone und fotografiert es: „Ich schicke es sofort an Anna.“ Anna in Kiew.

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