Ein starker Doppelpack zum Abschluss. Das unterstreicht den eigenen Anspruch und trägt dafür Sorge, dass man in guter Erinnerung bleibt. Ein Rückblick und ein Ausblick standen am Ende des Mannheimer Literaturfests Lesen.Hören. Der Samstagabend war der Erinnerung an den in Mannheim geborenen und aufgewachsenen Schriftsteller Wilhelm Genazino gewidmet, der im Januar 80 Jahre alt geworden wäre. Und am Sonntagmittag war in der erneut sehr gut besuchten Alten Feuerwache die Schriftstellerin Judith Hermann zu Gast, um im Gespräch mit Kritiker Christoph Schröder ihr neues Buch vorzustellen, das in dieser Woche in den Handel kommt.
Doch wie das so ist mit der Literatur: Bücher stehen zumeist für Rück- und Ausblicke zugleich, denn was man liest und schon gelesen hat, prägt auch den Blick aufs Leben und die Zukunft. Judith Hermann widmet sich in ihrem Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ (auch) ihrer Biografie und dem Schreibvorgang. Und das eigene Leben war ebenso für den Schriftsteller Genazino ein Motivgeber. Rückblickend sind seine Romane und Essays schon insofern, weil in diese oft Erfahrungen und Erlebnisse eingeflossen sind, die der Autor auf ausgedehnten Spaziergängen machte. Aber höchst gegenwärtig und überdies zeitlos wirken die weitreichenden Schlüsse und Lebenseinsichten, die er daraus zieht.
Dass der Name Genazinos weiterhin für lohnende Lektüren steht, daran ließ der Abend keinen Zweifel. Insa Wilke, die Programmleiterin des Festivals, hatte Texte aus dem Band „Der Traum des Beobachters“ ausgewählt, der Auszüge aus den Werktagebüchern des Schriftstellers bietet. Einfühlsam rezitiert wurden sie von Schauspieler Joachim Król. Um die schwierige Beziehung zu den eigenen Eltern, das „Elend der Kindheit“ in ärmlichen Verhältnissen und die Scham, über all das zu sprechen, ging es zunächst - und um die befreiende Möglichkeit, darüber dann zu schreiben. Als „Nervositätsträger“ hat Wilhelm Genazino die Schriftsteller charakterisiert; sie empfänden überall hin. Und er vermochte solche Empfindungen noch besonders gut in Sprache zu fassen.
Reflexionen über das Komische und Lachen wurden geboten, die für wichtige Aspekte des Werks stehen, denn Genazino ist ebenso ein nachdenklicher und melancholischer Autor wie ein komischer, der uns lehrt, Beschwernisse des Lebens mit einem Lächeln zu betrachten. Er wolle, notierte er, einem Menschen einmal ins Gesicht sagen: „Sie sind ein Teil des allgemeinen Grauens.“ Als Kultur- und Zeitkritiker erwies er sich etwa durch die grundsätzliche Frage, warum der Dummheit so viel Freiraum eingeräumt werde.
Das Allgemeine im Detail
Genazinos Stärke war es, in unscheinbaren Details das Allgemeine aufzuzeigen. Das bestätigten dann auch Auszüge aus dem Buch, die vier Mannheimerinnen und Mannheimer ausgewählt hatten und vortrugen. Illustrator Mehrdad Zaeri beispielsweise schätzt besonders den Satz: „Im Inneren wandere ich jeden Tag aus und bleibe dann doch zuhaus’.“ Insa Wilke meint, Genazino habe Bücher verfasst, „die einem beistehen“. Das tun sie auch weiterhin, denn der Autor schrieb über Verhältnisse, die auch die unseren sind oder zumindest in diesen noch nachwirken.
Und worüber schreibt Judith Hermann? Vor allem über sich selbst, sagt sie in der Feuerwache. In ihrem Buch „Wir hätten uns alles gesagt“, das auf ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen aus dem Vorjahr aufbaut, führt sie das weiter aus. 25 Jahre nach ihrem Debüterfolg „Sommerhaus, später“, der als Ausdruck des Lebensgefühls einer ganzen Generation rezipiert wurde, betont Hermann, auch ihr Schreiben sei Autofiktion. Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken werden literarisch stark bearbeitet. Die Vorlesungen selbst sind erzählerisch, wie die Textauszüge verdeutlichen. Und überhaupt, so erläutert sie im Gespräch, werde immer wieder viel gestrichen. So entstünden Lücken, auf die es gerade ankomme.
Man hört von Freunden und einem Psychoanalytiker, die es wirklich gibt, in den Texten aber literarische Figuren sind. Eine Figur und die Erzählerin hätten sich titelgemäß vielleicht wirklich alles gesagt, wenn sie an einem bestimmten Ort hätten bleiben müssen, was nicht der Fall war. In der geheimnisvollen Leerstelle, die auch hier benannt ist, liegt das Glück begründet, das Schreiben und Lesen bedeuten können. Von ihm spricht Hermann ebenso, und Genazino empfand es ganz ähnlich. Insa Wilke sagt noch, ihr und dem Team der Feuerwache habe das Literaturfest „beglückende Tage“ bereitet. Das sah das herzlich applaudierende Publikum offenbar ebenso.
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