Blickt man auf die Krisen dieser Welt, fällt es schwer, alle Ungerechtigkeiten, Nöte, Proteste, Diktaturen und Kriege zu überblicken. Denn während seit Jahren etwa im Jemen fernab der Berichterstattung ein todbringender Konflikt tobt (an dem auch westliche Verbündete Anteil haben), sind die Proteste im Iran und der von Russland ausgehende Krieg phasenweise allgegenwärtig.
Auch Programmleiterin Insa Wilke widmet bei Lesen.Hören den beiden Ländern deshalb einen Abend. Es gebe ein großes Bedürfnis nach Informationen von Menschen, die vor Ort sind, sagt sie. „Die Situationen im Iran und Russland sind nicht miteinander vergleichbar und haben doch viel miteinander zu tun.“
Fast zwei Stunden lang diskutiert ARD-Journalistin Golineh Atai – sie ist im Iran geboren und arbeitete lange in Russland – in der voll besetzten Alten Feuerwache mit Olaf Kühl und Shole Pakravan über die Proteste im Russland und im Iran. Auf der einen Seite analysiert Kühl, der als Übersetzer und Autor Russland genauso gut kennt wie als langjähriger Osteuropareferent der Regierenden Bürgermeister von Berlin, eher nüchtern die Geschichte Russlands und dessen ambivalente Gesellschaft – auf der anderen Seite sitzt Pakravan, die aus der persönlichen Betroffenheit heraus emotional die Geschichte ihrer Familie schildert, die vom Mullah-Regime zerstört worden ist. Wirklich gut funktioniert die asymmetrische Besetzung nicht.
Für ein Gespräch zu viel
Auch Atai trägt dazu bei, dass der Abend Längen hat. Selten gelingt es der vielfach ausgezeichneten Journalistin etwa, die oft ausufernden und teilweise sich auch im Kreis drehenden Appelle Pakravans zu moderieren. So motiviert die iranische Autorin von „Sieben Winter in Teheran“ die Zuhörerinnen und Zuhörer zum Protest, wenn etwa hochrangige iranische Politiker zu Behandlungen nach Deutschland kommen. Die Appelle sind eindringlich. Sie machen nachdenklich. Sie wiederholen sich. Kühl, der sein Buch „Z – Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen“ präsentiert, gelingt es an vielen Stellen, das Bild einer russischen Zivilgesellschaft zu zeichnen, das mit Blick auf den Ukraine-Krieg wenig Hoffnung auf baldigen Frieden gibt. „Frauen, die wie im Iran gegen das Regime kämpfen, gibt es in Russland nicht.“
Es bleibt der Eindruck, ob es nicht besser gewesen wäre, über die Themen, die beide zum Nachdenken anregen, an zwei Abenden zu sprechen. Bis auf zahlreiche Fehler der deutschen Iran- und Russlandpolitik – diesen Aspekt macht der Abend deutlich – haben die Krisen tatsächlich wenig gemeinsam und sind so in einer Diskussion in der Tiefe auch kaum zu behandeln.
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