Das ist wahrlich kein unbelasteter Tag, um ein Festival zu eröffnen. Für Freude, gar Unbeschwertheit bietet er wenig Anlass. Schon im vergangen Jahr fiel die Eröffnung des Literaturfestivals Lesen.Hören in der Alten Feuerwache in Mannheim mit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine zusammen. Und als jetzt am Freitag erstmals wieder zahlreiche Besucherinnen und Besucher zum Festival in die Feuerwache kamen, war just der erste Jahrestag des unseligen Anfangs. Vor einem Jahr ging man spontan auf die Ereignisse ein, entschloss sich, die Festivaltage durch Leseempfehlungen ukrainischer Literatur zu ergänzen. Nun wusste man seit langem um die Koinzidenz und hatte zur Eröffnung einen „Abend für die Ukraine“, so die Ankündigung, angesetzt. Grußworte und Begrüßungsansprachen, die im Tonfall erwartungsgemäß dezent blieben, gab es freilich trotzdem.
Gegen die kalte Berechnung
Christian Handrich, Leiter des Kulturzentrums, dankte vor allem den Unterstützern des Festivals, besonders dem Kulturamt, und richtete Grüße des Oberbürgermeisters aus, der selbst verhindert war. Programmleiterin Insa Wilke formulierte zur Einstimmung ein Bekenntnis für die Literatur als solche: Sie erlaube, auch zwiespältige Gefühle und Bitterkeit auszudrücken, sie zu teilen sowie, mit Blick auf den Krieg und dessen Urheber, „Warmherzigkeit gegen kalte Berechnung zu setzen“.
Ein Abend für die Ukraine sollte es also werden. Bekannt machte er vor allem mit literarischen Schätzen von dort, welche die ukrainische Schriftstellerin, Journalistin und Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2018 Tanja Maljartschuk vorstellte. Rundfunksprecherin Brigitte Assheuer trug sie wohlakzentuiert in deutscher Übersetzung vor.
Maßgeblich mitverantwortlich für die besondere Atmosphäre war die ebenfalls aus der Ukraine stammende Jazzpianistin, Sängerin und Komponistin Ganna Gryniva. Sie breitete für den ungewöhnlichen Abend einen folkloristisch geprägten, vor allem vokal geknüpften Klangteppich aus. Das alles trug dazu bei, dass der auf Plakaten noch in ein „Fest für die Ukraine“ umgetaufte Abend tatsächlich als solches wahrgenommen werden konnte.
Maljartschuk, die in Wien lebt, erwies sich als überaus kundige Vermittlerin; eigene Bücher, darunter der Roman „Blauwal der Erinnerung“ und die Essaysammlung „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“, blieben dezent ausgeklammert. Einige der vorgetragenen Texte hatte sie selbst eigens übersetzt; es gebe von vielen lesenswerten Büchern bislang leider keine deutsche Übertragung, betonte sie. Ihre Auswahl solle zeigen, dass die Ukraine größer sei als dieser Krieg und nicht nur Leid kenne. Letzteres aber, so Maljartschuk später, sei oft ihr Gegenstand, wenn sie von den drei Leitthemen Freiheit, Sklaverei und Liebe erzähle. Und so beweise eben auch die Literatur aus der Ukraine oft die poetische Fähigkeit, Wirklichkeit erträglicher zu machen.
Zeitlose Satire
Kein Zufall wohl, dass die vorgetragenen Texte vielfach einen politischen Subtext hatten. Zum Einstieg las Assheuer das Gedicht „Seid ihr bereit“ des Zeitgenossen Serhij Zhadan, das als poetisch-differenzierter Aufruf zur Entschlossenheit verstanden werden kann. Die Geschichte vom „Nachtfalter“ von Lesja Ukrajinka, einer Art Mutter der modernen ukrainischen Literatur, gestaltet im Kleinen, Unscheinbaren den Ikarus-Mythos nach. Der Falter, heißt es darin, „wollte die Welt sehen. Er hat das Licht gesucht“ - und kommt darin um. Die Assoziation zur Unterdrückungsgeschichte des Landes als Teil der Sowjetunion liegt nahe, auch wenn die Autorin bereits 1913 starb. Amüsanter Hintersinn ist an diesem Abend oft zu spüren. Eine Satire ist der 1906 entstandene „Doktor Besserwisser“ des ungemein produktiven Iwan Franko. Die Geltung seiner Charakterisierung eines Typus ist zeitlos und universell.
Als Repräsentant einer Kultur des Aufbruchs und der ästhetischen Erneuerung in den 1920er Jahren fand Walerjan Pidmohylnyj Erwähnung mit einem Auszug aus seinem Roman „Die Stadt“. Der Name des Autors steht auch für das gewaltsame Ende der Neuerungsversuche im Stalinismus; Pidmohylnyj wurde 1937 als angeblicher Verräter exekutiert. Viel Lyrik gab es in der Auswahl. Iya Kiva fragt in einem Gedicht: „Vater unser, erinnerst du dich noch an deinen Namen?“. Am Ende stand ein programmatisch wirkender, fast trotzig „Glücklich sein“ betitelter Text von Iryna Schuwalowa.
Gewiss, diese Literatur spricht nicht nur von Leid. Sie sei, vom Umfang her, weder groß noch klein, sie sei „genügend“, sagte Maljartschuk zum Abschluss. Und sie ist eine Entdeckung wert. Auch insofern war der Abend ein Fest, weil er die Kultur der Ukraine zelebrierte. Und er war ein Auftakt nach Maß, denn der Literatur wurde er ebenso gerecht wie dem schwierigen Jahrestag.
Info: Am 27.2., 20 Uhr, sind Helene Hegemann und Lena Brasch zu Gast
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