Salzburg. Wie aus dem Nichts tauchen die Aktivisten der „Letzten Generation“ auf, zücken ihre Spraydosen und brandmarken die Villa des reichen Mannes als Hort der Unvernunft und Zerstörung, wünschen ihm Tod und Teufel an den parfümierten Hals, weil er mit seinem Streben nach Macht und Mammon den Planeten ausplündert und die Welt ins Klima-Chaos stürzt.
Doch dem von jeder Moral und jedem Gott befreiten Kapitalisten sind die Wehklagen der Armen und Ausgebeuteten völlig schnurz. Statt innezuhalten und die fürchterlichen Folgen seines Handelns zu überdenken, feiert er lieber mit seinen Freunden und Gespielinnen einen Tanz auf dem Vulkan, süffelt Sekt, genießt das Leben und schaut zynisch in den Abgrund, der sich vor ihm auftut. Gelegentlich öffnet er die Tore seiner Nobel-Herberge und verteilt Brosamen an die abgemagerten, in Plastikplanen gehüllten Menschen, die in Erdlöchern hausen und der unerträglichen Hitze trotzen.
Die Salzburger Festspiele
- Die Salzburger Festspiele prunken mit Opern-Premieren („Macbeth“, „Falstaff“, „Le nozze di Figaro“, „Die griechische Passion“, „Orfeo et Euridice“), Schauspiel-Inszenierungen („Nathan der Weise“, „Liebe (Amor)“, „Der kaukasische Kreidekreis“, „Die Wut, die bleibt“), einer Reihe für „Jung und Jede*r“ sowie mit Konzerten, Vorträgen und Workshops.
- Informationen zu Programm, Aufführungsdaten und Eintrittspreisen unter unter www.salzburgerfestspiele.at.
- „Jedermann“ mit Michael Mertens wird bis zum 29. August auf dem Domplatz gespielt, bei schlechtem Wetter im Großen Festspielhaus.
Das Ende ist nah. Warum sollte der an den Menschen verzweifelnde Gott sich ausgerechnet für ihn, den reichen Mann, interessieren, an ihm ein Exempel statuieren, ihn für seine Sünden büßen lassen und in das große „Spiel vom Sterben“ verwickeln?
"Jedermann" ist Gründungsstück der Salzburger Festspiele
Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“, im August 1920 von Max Reinhardt vor dem Salzburger Dom erstmals in Szene gesetzt, ist das Gründungsstück der Salzburger Festspiele. Seither sind weit über 700 Vorstellungen gespielt, haben sich immer wieder große Regisseure und Schauspieler an eine Neudeutung des von dunklen Mythen und geheimnisvollen Märchen durchwirkten Stoffes gewagt.
Curd Jürgens, Klaus Maria Brandauer, Ulrich Tukur, Tobias Moretti, Peter Simonischek, sie alle verkörperten den „Jedermann“. Lange blieb das „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ einem zeitlos-verklärten Mittelalter verhaftet, herrscht ein heute fast peinlich anmutendes Pathos. Den Weg in die von Katastrophen und Krisen, Untergangs-Szenarien und Endzeit-Stimmungen geprägten Moderne schaffte das Drama erst unter Regisseur Michael Sturminger, der jetzt bereits zum dritten Mal den „Jedermann“ inszenieren darf.
MIchael Maertens schenkt "Jedermann" in Salzburg neue Facetten
Zuletzt war Lars Eidinger ein trotziger, wild um sich schlagender „Jedermann“, ein Kindskopf und Falschspieler, der glaubt, auch Gott und Tod mit billigen Tricks betrügen zu können. Jetzt schenkt Michael Maertens der vielfältig schillernden Figur noch einige neue Facetten und macht aus dem eitlen Machtmenschen einen nölenden Zyniker, schlaffen Melancholiker und sabbernden Erotomanen, dem die Welt völlig Wurst ist, der Gott höchstens als Opium fürs Volk durchgehen lässt und glaubt, alternativlos und unsterblich zu sein: Too big to fail.
Welch ein Irrtum, welch eine Selbstüberschätzung: „Hie hilft kein Weinen und kein Beten. Die Reis mußt alsbald antreten.“ Der Tod kennt kein Erbarmen. Und auch der Wetter-Gott hat für den in lila Samtanzügen herum stolzierenden Pfau nichts übrig. Donner, Blitz und Regen gefährden die Premiere und verscheuchen das zum apokalyptischen Drama in Zeiten der Klima-Katastrophe umgedeutete Spiel vom Domplatz ins Große Festspiel. Schade.
Ohne Dom-Kulisse fehlt Kraft und Konzentration
Denn ohne die beeindruckende Dom-Kulisse und die auf den Platz gebolzten steil aufragenden Zuschauer-Tribünen verliert das auf kritische Aktualität zielende Spiel an Kraft und Konzentration. Die Bühne des riesigen Hauses ist zu breit, die Akustik ist zu schwammig, die ins Atonale abdriftende Musik zu leise.
Das Spiel zerfasert zunehmend in Belanglosigkeit und Blödelei. Nirgends wird deutlich, warum dem eben noch bunte Parties feiernden „Jedermann“ plötzlich beim Anblick des Todes die Knie zittern, er um sein erbärmliches Leben fürchtet und mit Gott um ein paar zusätzliche Minuten feilscht. Vielleicht fehlt ihm der Durchblick, sind doch viele Rollen doppelt besetzt und schwer zu deuten.
Heute geben Frauen den Ton an
Valerie Pachner ist macht die Buhlschaft zu einem naiven Hippie-Girl, als Tod ist sie dagegen von berauschender Präsenz und grandioser Aura. Sarah Viktoria Frick ist ein Gott der Gnadenlosigkeit und zugleich ein wild gewordener Teufel, der in der Kirche ein nacktes Tänzchen wagt. Auch Birte Schnöink (Des Schuldknechts Weib/Werke) und Anja Plaschig (Spielansagerin/Glaube) schlüpfen umstandslos in verschiedene Kostüme und Spielweisen.
Wo früher Männer die Bühne beherrschten, geben heute die Frauen den Ton an und zeigen, dass alles mindestens zwei Seiten und mehrere Bedeutungen hat. Gut und Böse, wer kann das heute, wo die Welt am Abgrund steht und die „Letzte Generation“ einen aussichtslosen Kampf gegen die Windmühlen des globalen Kapitalismus führt, noch unterscheiden?
Auch Mirco Kreibich kann uns nicht helfen: Als Schuldknecht ist er ein armer Schlucker, als Mammon ein graziler Balletttänzer, der Pirouetten dreht und mit Gold um sich wirft. Doch welchen Wert hat das Geld noch, wenn wir nichts mehr dafür kaufen können und uns nichts mehr retten und erlösen kann?
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