Eine der frappierenden Stärken von „All of Us Strangers“ ist die Realitätsraum-krümmende Konsequenz, mit der dieser Film das Unerklärliche erzählt. Eine andere die unverwandte Intensität, mit der er die Seelenzustände seiner Hauptfigur in Bilder fasst, die Einsamkeit, die innerliche Isolation, die von Kindheit an mit jener gewachsen zu sein scheint. Die britisch-amerikanische Produktion in der Regie von Andrew Haigh, der auch das Drehbuch schrieb, läuft als diesjähriges „Centre Piece“, als cineastisches Herzstück beim Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg, wo sie als „Eines der größten Kinoerlebnisse des Jahres!“ angepriesen wird.
Begegnung mit den Toten
Der Ausgangspunkt: Drehbuchautor Adam (grandios: Andrew Scott) lebt in einem Hochhaus in London, offenbar auf weiter Flur als einziger Bewohner. Als ihn ein Alarm aus seinem Apartment ins Freie treibt, wendet sich der Kamerablick auf die Gebäudefront, und nur in einer einzigen anderen Wohnung leuchtet fahles Licht. Am Fenster sieht man: Harry (Paul Mescal), der kurz darauf angetrunken vor Adams Wohnungstür steht, womit eine leidenschaftliche Liebesgeschichte beginnt. Und eine Geistergeschichte. Denn nachdem Adam sich Familienfotos aus Kindheitstagen angesehen hat, fährt er mit dem Zug in seinen Heimatort, kommt am Elternhaus an, wo Vater (Jamie Bell) und Mutter (Claire Foy) ihn herzlich willkommen heißen.
Allerdings: Die beiden sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, vor vielen Jahren schon, Adam war damals erst zwölf. Er besucht sie ein ums andere Mal und beginnt, gleichsam seine Trauer und ein Leben aufzuarbeiten, das es so nie gab. Er erfährt anfängliche Zurückweisung durch seine Mutter, als er ihr eröffnet, dass er schwul ist, will wissen, warum sein Vater ihn weiland nach Mobbing-Angriffen weinend allein ließ. Auch für die Eltern beginnt mithin eine Auseinandersetzung mit dem, was sie getan und versäumt haben. Parallel dazu, und zunehmend ineinander verwoben, wird die wachsende Beziehung zu Harry erzählt, samt lebenshungrigen Clubbesuchen (die britisches Pop-Musik der 80er, insbesondere von Frankie Goes to Hollywood, spielt durchweg eine gewichtige Rolle).
Großes Kinoerlebnis
Das daraus erwachsende Gefühl ist dem magischen Realismus einer Haruki-Murakami-Erzählung nicht unähnlich. Tatsächlich basiert der Film lose auf dem 1987 erschienenen Roman eines anderen japanischen Autors, auf „Strangers“ („Sommer mit Fremden“) von Taichi Yamada.
Man kann sich fragen, ob alles Traum oder Halluzination, Zeitreise oder eben Geisterbegegnung ist. Oder man lässt sich einfach auf die wundersame innere Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit dieses Films ein. Dessen Ende ist Glück und Tragödie zugleich, und vielleicht auch ein bisschen viel von beidem, ein bisschen pastos auf die Leinwand aufgetragen. Aber, ja: „All of Us Strangers“ ist eines der großen Kinoerlebnisse dieses Jahres.
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