Beide führen sozusagen eine zeitversetzte Existenz, ihre Berufe zwingen sie zur Nachtarbeit: Die Frau ist die perfekte Hebamme, die den anderen Frauen beim „Pressen, pressen, pressen!“ hilft und bei den Mühen, ja Torturen des Gebärens einfühlsam begleitet. Er, der Mann, ist ein Pariser Busfahrer. Seine Familie stammt aus jenem Land, das heute viele Länder zählt und früher einmal Jugoslawien hieß.
Die beiden treffen sich an seiner Endstation, denn sie ist eingeschlafen und er muss sie aus dem leeren Bus bitten. So lernen sie sich kennen und verbringen schließlich eine Nacht zusammen. Der Beginn einer Beziehung, die in Iris Kaltenbäcks Debütspielfilm „Le Ravissement“ („The Rapture“) zu einer Tragödie führen könnte. Auch wenn sich am Schluss die Möglichkeit zu einem Happy End anbahnt.
Lydia und Milos heißen die zwei Hauptfiguren. Lydia möchte Milos enger an sich binden, spielt ihm vor, das Baby ihrer besten Freundin sei ihr eigenes - und Milos dessen Vater. Immer heilloser verstrickt sie sich in ihre Lügen, bis die Sache fast zwangsläufig eskaliert.
Ist Lydia eine letztlich schwache Frau, die sich verrannt hat? Oder ist sie schamlos manipulativ? Die Psychologen, die das zu verhandeln haben, können sich nur schwer entscheiden. Und das tiefgründige, leise Spiel der Hauptdarstellerin Hafsia Herzi lässt es gleichfalls offen, Ähnliches ist von der Inszenierung Iris Kaltenbäcks zu sagen. Dazu passen auch die etwas grobkörnigen Bilder, die eine Art Grauschleier über die Szenerie legen. Milos, dem Busfahrer, erscheinen daher seine Fahrgäste vollkommen austauschbar: „Vertraute Fremde“ nennt er sie.
Weniger beachtete Formate
Das könnte auch beim Mannheim-Heidelberger Filmfest Überschrift für eine neue Reihe sein. In Wahrheit heißt die Reihe aber „Filmscapes“, in zwölf Beiträgen zeigt sie die in der internationalen Kino-Landschaft häufig weniger beachteten Formate, etwa Essays oder Dokumentationen. Aber auch ein wenig kurze oder überlange Filme. Manchmal sind sie von bekannten Regisseuren, Nuri Bilge Ceylan etwa nennen die Programmmacher zu Recht den „Großmeister des türkischen Autorenkinos“.
Pham Thien An könnte einmal ein Meister werden. Sein Debüt mit einem langen Spielfilm ist gleich richtig lang geworden, dauert knapp drei Stunden. In „Inside the Yellow Cocoon Shell“ erzählt der Vietnamese von der Suche eines jungen Mannes nach dem Bruder (dessen Frau tödlich verunglückt ist). Und von der Suche nach dem Lebenssinn. Der Film nimmt seinen Ausgang in Saigon, im heutigen, teils total verwestlichten Vietnam, wo eine Schöne mit den Worten „Unser Bier vereint drei blumige Aromen“ ein Gesöff an den erwähnten jungen Mann verhökern will. Ein Craftbeer aus Vietnam. Die Alltagsszenen in der Stadt sind hyperrealistisch eingefangen.
Natürliche Romantik
Aber dann geht es zurück aufs Land, auf einem alten Moped über löchrige Wege. „Geld ist nichts als Staub“, erklärt ein alter Dorfbewohner. Und die Sinnsuche beginnt. Der Regisseur zeigt das in Bildern, die in der Kadrierung manchmal wenig „schulmäßig“ daherkommen, aber viel unverbrauchte Kraft besitzen. Scheinwerfer von alten Mopeds leuchten auf wie Sonnen, und die Waldlandschaft im Nebelmeer ist reinste vietnamesische Romantik.
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