Essay

Haben wir da etwas falsch gemacht?

Von 
Martin Geiger
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Corona spaltet. Und die Berichterstattung ebenso. Gedanken eines grübelnden Journalisten nach rund einem Jahr mit dem Dauerthema Pandemie. Von Martin Geiger

Neulich war ich wirklich geschockt. Meine Mutter kam zu Besuch, nestelte noch an der Wohnungstür an ihrer Handtasche herum und versuchte, mir auf ihrem neuen Smartphone ein Video zu zeigen. Es war, ließ sich aus ihren Worten entnehmen, in den Tagen zuvor ein großes Thema am Mittagstisch gewesen. Und dort hatte sie von einem meiner Cousins den Auftrag erhalten: Zeig das mal dem Martin.

Das Video muss in Köln am Rande einer Demonstration gegen die Corona-Auflagen entstanden sein. Es zeigt zwei Männer, von denen einer eine Flagge des Deutschen Kaiserreichs an einem Stock befestigt. Der andere soll angeblich ein freier Mitarbeiter des WDR sein. So kryptisch die Bilder bleiben, so eindeutig ist der Subtext, mit dem das Video unter anderem auf Facebook verbreitet wurde: Nicht die Demonstranten verwenden die umstrittene Flagge. Die Medien bringen sie selbst mit, um die passenden Bilder zu erzeugen. Lügenpresse also.

Nun ist die Kritik am Journalismus nicht neu. In den USA befeuert sie selbst der einst mächtigste Mann der Welt. Hierzulande versucht vor allem die AfD, mit ihr Stimmung zu machen und Stimmen zu gewinnen. Aber dass jetzt sogar mein Cousin so etwas für möglich hält, hat mich schon zum Nachdenken gebracht. Haben wir bei der Corona-Berichterstattung etwas falsch gemacht?

„Ich kann es nicht mehr lesen.“ Diesen Satz habe ich im vergangenen Jahr oft gehört. Und manchmal selbst gedacht. Kein Wunder, die Berichte über das Virus haben Ausmaße angenommen, die wir noch nie hatten. Die Pandemie hat dem Institut für Empirische Medienforschung in Köln zufolge im Frühjahr bis zu 73 Prozent der Hauptnachrichten von ARD und ZDF bestimmt. Und im Archiv dieser Zeitung finden sich nur bei Betrachtung der Überschriften im vergangenen Jahr mehr als 3000 Texte. War das zu viel? Vielleicht.

Andererseits hat das Virus eben alle Lebensbereiche erfasst. Auch das hatten wir noch nie. Und das hat die Berichterstattung gespiegelt. War es im Privatleben nicht ähnlich? Wie viele „coronafreie“ Gespräche haben Sie in letzter Zeit geführt?

Zudem ist auch das Informationsbedürfnis exponentiell gewachsen. Der Internetauftritt dieser Redaktion etwa verzeichnete mit Beginn der Pandemie Zugriffszahlen, die vier Mal höher waren als sonst. Corona war das alles dominierende Thema. An manchen Tagen hat es keine andere Nachricht in die Liste der 15 am häufigsten gelesenen Artikel geschafft. Wen wundert es da, dass wir Journalisten, die ja vom Interesse an unserer Arbeit leben, dieses offensichtliche Bedürfnis bedienen? Zumal es sich um Angebote handelt. Niemand wird gezwungen, die Berichte zu lesen.

Journalistik-Professor kritisiert Defizite

Eine andere Kritik erscheint daher schwerwiegender: die an der Art der Berichterstattung. Mit am prominentesten vertreten hat sie Klaus Meier, Professor für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Zusammen mit Vinzenz Wyss hat er fünf Defizite in der Corona-Berichterstattung des Frühjahrs festgestellt: einen zu unreflektierten Umgang mit Zahlen, die Überbetonung von Einzelfällen, eine zu geringe Transparenz bezüglich der eigenen Rolle, die fehlende vielfältige Auseinandersetzung mit den politischen Entscheidungen und die Darstellung einzelner Virologen als unfehlbare Medienstars.

Was meinen die Wissenschaftler damit? Ein Anruf in Ingolstadt erhellt das. „Zahlen bilden nicht die Wirklichkeit ab“, sagt Meier. Sie könnten nur schwer verglichen und müssten differenziert betrachtet werden: „Bei der Zahl der Corona-Toten etwa hätte von Anfang an unterschieden werden müssen zwischen Menschen, die an Corona gestorben sind, und Menschen, die an etwas anderem gestorben sind, bei denen das Virus aber auch nachweisbar war.“ Damit hat Meier recht. Und die Medien haben gelernt. Längst haben sich neutralere Formulierungen durchgesetzt wie „Tote im Zusammenhang mit dem Coronavirus“. Als Grundsatzkritik taugt das Argument aber nicht, das zeigt die Betrachtung des Gegenpols: Was wäre es für ein Journalismus, der sich nicht an den (vorhandenen) Zahlen orientiert, sich also auf die (verfügbaren) Fakten beruft? Berichten nach Bauchgefühl – wäre das besser?

Der seriöse Umgang mit Zahlen ist allerdings verdammt schwierig – auch das sei erwähnt, um die eigene Rolle transparenter zu machen. Denn es gibt unterschiedliche Werte, die von unterschiedlichen Quellen zu unterschiedlichen Zeitpunkten veröffentlicht werden. Diese anschaulich aufzubereiten, aktuell zu halten und auf ihre Schwächen hinzuweisen, ist, wie Flöhe hüten. Wie sollen Journalisten, die keine Statistiker sind und immer unter Zeitdruck stehen, das leisten, wenn sich Stadt und Land nicht mal über die Einwohnerzahl Mannheims verständigen können?

Berechtigt ist Meiers Hinweis trotzdem. Auch was die Überbetonung von Einzelfällen angeht. Wenn wir in fünf Kliniken anrufen, in vieren die Lage entspannt ist und in einer kritisch, schreiben wir über Letztere mehr und machen daraus die Überschrift. Das geschieht (in der Regel) aber nicht aus einer Haltung heraus, oder weil wir Panik erzeugen möchten. Sondern weil wir denken, dass Sie das mehr interessiert. Weil das Besondere für uns einen Nachrichtenwert hat, nicht das Gewöhnliche. Weil wir Spannung erzeugen wollen. Und manchmal dabei vielleicht etwas übers Ziel hinausschießen.

Übertrieben war teilweise auch die Darstellung von Christian Drosten. Doch das ist ebenso korrigiert wie erklärbar: Denn in der Anfangsphase der Pandemie war der Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité einer der wenigen, die sich mit Coronaviren auskannten und die Zusammenhänge (halbwegs) verständlich erklären konnten. Zudem hat das Format des Podcasts, der ausführlich, einfach zu konsumieren und ständig verfügbar ist, dazu beigetragen, dass er zum Chefaufklärer der Republik wurde. Dank ihm waren so viele Menschen so nahe an der Frontlinie des wissenschaftlichen Fortschritts wie noch nie: Eine einmalige Leistung von Drosten, aber auch des NDR, also der Medien, die bei aller berechtigter Kritik zu selten gewürdigt wird.

Erfüllungsgehilfen der Politik?

Bleibt die zu unkritische Auseinandersetzung mit den Entscheidungen der Regierung. Sicher, in der Tendenz war die Berichterstattung zunächst vermittelnd und erklärend. Die Reflexion folgte später – übrigens auch bei der politischen Opposition, die sich ebenfalls lange mit Kritik zurückhielt. Die Erklärung ist so banal wie menschlich: Die Medien sind von der Pandemie überrascht worden. Wie wir alle. Sie wussten am Anfang praktisch nichts. Wie wir alle. Und haben dann dazu gelernt. Wie wir alle. Das räumt auch Journalismus-Forscher Meier ein: „Im Vergleich zum Frühjahr ist vor allen Dingen jetzt ein breiteres Spektrum an Vielfalt da.“

Umstritten bleibt die Berichterstattung dennoch. Das hat auch der Deutschlandfunk gemerkt, der dazu eine Sendung gemacht hat. „Das Thema ist bei unseren Hörern auf eine große Resonanz gestoßen, die deutlich über dem Durchschnitt lag“, sagt Moderator Andreas Stopp. Drei Kritikpunkte seien besonders oft genannt worden: Dass es zu viele Berichte über die Pandemie gebe, dass die Journalisten sich nicht auf die Faktenvermittlung beschränkten, und dass sie sich zu Erfüllungsgehilfen der Politik machten.

Ein Hörer bemängelte auch, dass manche Zeitungen ihre Corona-Berichte im Internet nicht komplett kostenlos zur Verfügung stellten, obwohl sie moralisch dazu verpflichtet seien. Wie, bitte? Welcher Arzt arbeitet unentgeltlich? Welcher Apotheker? Welche Pharmafirma? Die meisten Medien sind – abgesehen von den öffentlich-rechtlichen – Unternehmen, die Geld verdienen müssen: weil es sie sonst bald nicht mehr gibt.

Die Mehrheit der Deutschen immerhin ist mit der Arbeit der Journalisten zufrieden. Laut einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap fanden 82 Prozent die Corona-Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gut oder sehr gut. Der Wert für die Tageszeitungen lag bei 68 Prozent. Die Glaubwürdigkeit der Medien hat sogar einen neuen Höchststand erreicht: 67 Prozent halten deren Informationen für glaubwürdig. Das heißt aber auch, dass 33 Prozent daran zweifeln.

Jochen Hörisch gehört nicht dazu. Trotzdem findet der emeritierte Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Mannheim das Thema interessant. Schließlich hat er das Buch „Eine Geschichte der Medien“ geschrieben – und lobt diese am Telefon ausführlich. Zumindest die klassischen.

„Neue Medien haben Tote zu verantworten“

„Wir haben eine sehr verlässliche, umfangreiche und detaillierte Berichterstattung über Corona in den Medien“, sagt er. „Die gute, alte Presse ist eben definitiv keine Lügenpresse. Sie ist ihrer Berichterstattungspflicht auf bemerkenswert gute Art und Weise nachgekommen.“ Etwas anders fällt sein Urteil über die Neuen Medien aus. „Instagram, Facebook und Twitter waren ein Tummelfeld für Verschwörungstheorien. Das hat Tausende Tote zu verantworten“, sagt Hörisch. „Der Lackmustest, was Neue Medien in Krisensituationen leisten, ist nicht zu ihren Gunsten ausgegangen.“

Dazu passt eine Umfrage von Infratest dimap für die Vodafone Stiftung. Demnach sind 76 Prozent der 14- bis 24-Jährigen im Internet mindestens einmal pro Woche mit Falschnachrichten über die Pandemie konfrontiert. Das nährt Zweifel an den klassischen Medien und beschert den Corona-Leugnern Zulauf. Dennoch sind sie in der Minderheit. Das zeigen die repräsentativen Umfragen der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, wonach regelmäßig 80 oder mehr Prozent der Deutschen die Maßnahmen der Regierung richtig finden oder schärfere fordern.

Trotzdem gibt es diejenigen, die dem „Mainstream“ komplett misstrauen. Wie sollen wir Journalisten damit umgehen? Dieses Problem erinnert an das der etablierten Parteien beim Verhalten gegenüber der AfD. Ignorieren ist also der falsche Weg. Der einzig gangbare scheint: Sich inhaltlich vorbehaltlos mit ihrer Kritik auseinandersetzen und die Argumentationsfehler aufzeigen.

Wir reden derzeit viel über die Spaltung Amerikas und schütteln darüber, gerne etwas arrogant, den Kopf. Lasst uns lieber über unsere eigene Spaltung reden! Denn im Zuge von Globalisierung und Individualisierung driften auch hierzulande die Lebenswelten auseinander.

Das haben wir Medien, die mit schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen und teilweise Stellenabbau zu kämpfen haben, bislang unterschätzt. Das war ein Fehler, wie es sie auch in der Corona-Berichterstattung selbstverständlich gibt. Journalisten sind Menschen und damit nicht perfekt. Grundlegend falsch haben wir das meiner Meinung nach aber nicht gemacht.

Der WDR hat übrigens mitgeteilt, dass der Mann in dem Reichsflaggen-Video keiner seiner freien Mitarbeiter ist. Fake-News also.

Und ich habe meinem Cousin geantwortet, was ich jedem Grundsatz-Kritiker entgegnen würde: „Das Drumherum des Videos ist hoch manipulativ… Das ist Käse! Das ist gefährlich!! Lass dir das bitte nicht einreden!!!“

Redaktion Reporter für das Ressort "Mannheim".

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