„Die Freiheit der Kunst, das Experiment und der Mut zum Risiko“ stehe im Mittelpunkt des neuen Konzeptes, das Kurator Dirk Förster für Schwindelfrei erstellt habe, erklärt dessen Leiterin Nicole Libnau bei der Eröffnung des Mannheimer Theaterfestivals. „Es ist auch ein Privileg, dass wir in einem friedlichen, freiheitlichen Land in Europa leben, in dem so ein Festival ganz selbstverständlich möglich ist, gerade weil wir die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart und visionäre Entwürfe für die Zukunft so dringend brauchen“, sagt Förster.
Mut zum künstlerischen Risiko, vereint mit gesellschaftlich-politischem Impetus zeichnet die Arbeit des Mannheimer Theaterkollektivs Rampig aus, das am Eröffnungsabend die Premiere der Performance-Rauminstallation „Schwesterstaat“ zeigt. Man findet sich hierfür an der St. Hedwig-Geburtshilfeklinik in den Quadraten ein, die in der einstigen Villa der Mäzenin, Stifterin und Frauenverein-Funktionärin Julia Lanz und ihres Mannes, des Unternehmers Heinrich Lanz, ihre Heimstatt hatte.
Vier Tage Festival
- Das vom Kulturamt der Stadt ausgerichtete Theaterfestival Schwindelfrei findet von Donnerstag bis Sonntag, 7. bis 10. Juli, in Mannheim statt.
- Das Festival-Zentrum ist vor dem Eintanzhaus.
- „Theater Performance Kunst Rampig“ wurde 2005 in Heidelberg gegründet.
- Ore Arts ist ein Kollektiv von Künstlern, die in der Region leben und für die Sichtbarkeit von Schwarzen Menschen in der Kunst- und Kulturszene kämpfen. Es entstand auf dem Festival Schwindelfrei 2018.
Intensive Erfahrung
Zur „Geburt unseres Schwesterstaats“, begrüßt Rampig-Gründerin Beata Anna Schmutz die kleine Publikumsgruppe, die durch das Gebäude geführt wird. Dort wird sie mit der Präsenz einer anderen Julia konfrontiert: Richterin Julia Przylebska, unter deren Vorsitz der polnische Verfassungsgerichtshof das Recht auf Abtreibung weiter eingeschränkt hat. Womit sich wiederum auch eine in die Performance eingebettete Ausstellung mit Malereien (darunter: „Mein Körper – Meine Sache“) der polnischen Künstlerin Malgorzata Mycek befasst; ebenso sind Videoaufnahmen von Frauen zu sehen, die gegen die Gesetzesänderungen protestieren.
Zehn Spielerinnen und Spieler geleiten die Gruppe durch Hof, Wohn-, Keller- und Klinikräume, wo in verschiedenen Stationen die Entstehung des – mit kultischer Emphase skizzierten – schwesterlichen Staates und zugleich die Zersetzung alter patriarchalischer Narrationen zu erleben sind. Vorbei an reichlich Schlamm, Theaterblut und Oktopus-Präperaten gleitet man hier wie durch ein fiebriges Delir, dringt durch Monologe, Videosequenzen, Performance-Elemente und Spielszenen, als würde man sich durch die Mollusken-haften Eingeweide einer irrlichternden Vision zum Licht hin arbeiten. Das ist intensiv, fordernd – und gleichzeitig auch sehr gut.
Zum Festival gehören auch die drei „Residenz-Showings“, in denen Kunstschaffende die Ergebnisse dreiwöchiger Arbeitsprozesse vorstellen. In der ersten Präsentation stellt das Mannheim-Heidelberger Kollektiv Ore Arts im Eintanzhaus seine Performance „Sisters of the Yam“ vor, die vom gleichnamigen Buch von Bell Hooks inspiriert wurde. Die US-amerikanische Autorin untersuchte darin, wie Sexismus und Rassismus die seelische Gesundheit schwarzer Frauen angreift und schrieb über Strategien zur Selbstfindung, Heilung und zum politischen Widerstand. Was sich hier zu einer Verbindung aus Performance und Bewegungstheater fügt: Von rituellen Handreichungen mit Räucherwerk über verlautbarte Selbstzweifel zu Bewusstseinsschaffung und Selbstermächtigung.
Von in Bewegung gefasster, sprachloser Wut zu befreit kollektivem Tanz setzen die fünf Spielerinnen und ein Spieler hier ein eindrückliches fragmentarisches Kaleidoskop zusammen, das in die chorische Formel „I believe if we love we are able to search our memories und see the past with new eyes“ mündet: Mit dem Glauben daran, dass die Liebe es ermögliche, die Erinnerung zu durchforschen und die Vergangenheit mit neuen Augen zu betrachten, endet die Vorstellung – und man kehrt auf den Vorplatz zurück, wo der Berliner Vincent Bababoutilabo und seine Band unter dem Namen Rosa Shakur wunderbar eigenwilligen Pop spielen.
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