Ludwigshafen. So kann man sich täuschen. In Menschen, aber auch in sich selbst. Molière, der große französische Dramatiker des 17. Jahrhunderts und Säulenheilige der Klassik, war 1666 davon ausgegangen, dass seine fünfaktige Komödie „Le Misanthrope“ ein echter Kassenschlager wird: „Nie habe ich Besseres gemacht“, schrieb er hoffnungsfroh.
Er täuschte sich. In sich und seinen Zeitgenossen. Verzicht kommt selten gut an. Der Bruch mit der Konvention, reichlich Türen zu schlagen, lustige Übertreibungen, Verwechslungen und Verkleidungen einzubauen, irritierte das Publikum. „Handlungsarmut“ und „nicht lustig“ lauteten die Vorwürfe.
Verzicht auf den handelsüblichen Klamauk hat sich auch Regisseurin Anne Lenk auf die Fahne geschrieben. Eine gute Entscheidung, wie zwei ausverkaufte und heftig beklatsche Gastspiele ihrer Inszenierung für das Deutsche Theater Berlin jetzt auch im Pfalzbau bewiesen.
Regisseurin Anne Lenk
- Nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität in Gießen erhielt Anne Lenk (*1978) eine Regie-Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München.
- 2007 gastierte sie beim Körber Studio Junge Regie in Hamburg und beim Young Actors Project am Salzburger Mozarteum.
- Als freischaffende Regisseurin inszenierte sie in Augsburg, Bochum, Hamburg, Lübeck, Aachen, Osnabrück und Wien.
- Ihre Uraufführung von Franz Xaver Kroetz’ „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“ am Münchner Residenztheater wurde 2013 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.
- Mit „Der Menschenfeind“ wurde sie 2020 erstmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen, für „Maria Stuart“ (zu Gast bei den Schillertagen am Nationaltheater Mannheim) folgte 2021 ihre zweite Theatertreffen-Einladung.
- Ab 2025 gehört sie zum Leitungsteam von Intendantin Sonja Anders am Thalia Theater Hamburg. rcl
Molière gelang mit dem „Menschenfeind“ dennoch das Kunststück, eine Art psychologischen Realismus zu entwickeln. Er setzte auf Charakterzeichnungen und Konflikte, die erst die prominente Nachwelt namens Goethe, Schiller, Hofmannsthal oder auch Enzensberger zu schätzen wusste.
Molière am Pfalzbau: Keine Empörung, kein Schaum vor dem Mund – nur Lächeln
Zeitgenossen seiner geselligen und salonseligen Etikette-Epoche sahen in der Menschenverachtung des Protagonisten Alceste eine Art sozialen Defekt, den Psychologen heute wahrscheinlich Anpassungsstörung nennen würden. Im Zentrum der mehrfach ausgezeichneten Berliner Inszenierung steht allerdings ein Titelheld, der die Sache anders angeht. Ulrich Matthes hat keinen Schaum vor dem Mund, ist kein hysterisch Empörter, sondern eher stiller Beobachter und allenfalls moralischer Grantler mit Anziehungskraft. Die erotischen Avancen der starken Berliner Damenriege beweisen es.
Nicht nur die jugendlich-naive Éliante (Lisa Hrdina), sondern auch gleich deren Gegenteil, die reife Intrigantin Arsinoé (Judith Hofmann) sind seinem spröden Charme erlegen. Beide spielen groß – und dabei fein, was übrigens für den ganzen Abend gilt und die 90 pausenlosen Minuten im Flug vergehen lässt.
Man bleibt dran, am Text (gespielt wird die stark gestrichene deutsche Reimfassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens) und an den Mündern und Figuren, die Sibylle Wallum in elegante wie originelle Kostüme gewandet hat. Womit der Beweis erbracht ist, dass diese Kombination durchaus möglich ist.
Bei „Der Menschenfeind“ in Ludwigshafen darf auch gelacht werden
Gleiches gilt auch für die Bühne Florian Lösches, ein strenger, grau-schwarzer Guckkasten mit flexiblen Gummiseilen, die flugs Abgänge und Auftritte mit spielerischer Situationskomik ermöglichen.
Anne Lenk hat ihrem Molière also klinische Atmosphäre und kühle Eleganz verordnet. Das heißt, nicht, dass hier nicht gelacht werden darf.
Allenfalls die Glaubwürdigkeit der erotischen Geplänkel bleibt dabei ein wenig auf der Strecke. Dafür profitieren Textverständlichkeit, Sprachwitz und Sprechkunst, also das, was sonst oft nur noch von der Rampe gebrüllt oder lässig unbeteiligt ironisch seitlich weggesprochen wird. Es ist ein im doppelten Wortsinn klassischer Abend, von der Epoche wie von Sprechtheaterauffassung her. Dass Lenk zudem den – wie die Musikwissenschaft es nennen würde –„historisch informierten“ Molière-Dreh zum Kammerspiel ohne Komödienklamauk hinbekommt, zeichnet diese Inszenierung von 2019 aus.
Ein Ensemble, das sich nicht nur um den Star Ulrich Mathes schart
Sie hat natürlich, schließlich sprechen wir vom Deutschen Theater Berlin, ein exzellentes Ensemble zur Verfügung, das sich nicht nur um den Star Matthes kränzt. Ihm zur Seite steht seine begehrte Célimène, der Franziska Machens strahlende wie unaufgeregte Natürlichkeit verleiht. Lässig buhlt sie auch um die Gunst der beiden Höflinge Acaste (Jeremy Mockridge) und Clitandre (herrlich: Elias Arens), die dem Komödien-Affen maßvoll Zucker geben dürfen.
Manuel Harder verzichtet indes als Freund Philinte auf nervige Klettennähe und aufdringlichen Eigennutz. Es sei gefährlich, sich in Weltverachtung hineinzusteigern, warnt er, aber Alceste legt sich dennoch mit dem prominenten Hofdichter Oronte an. Timo Weisschnur darf als einziger ein wenig zu viel tun, schließlich ist er die eigentliche Lachnummer dieser verlogenen Gesellschaft. Alceste bescheinigt ihm – auf dessen Drängen hin – die miserable Qualität seiner Verse. Schlechte Kunst braucht aber ausschließlich Lob, vor allem wenn sie in den allerhöchsten Kreisen reüssieren will.
Also zieht der hochgestellte Kunstschöpfer und Schmied unwahrhaftiger Verse unter Protektion von oben beleidigt vor den Kadi. Den Richter bezirzen oder schmieren, ist für Alceste – selbstverständlich – keine Option.
Ob derjenige, der nicht mitspielen will bei Schönfärberei, Ränken, Schmeichelei, Intrigen und Verlogenheiten am Ende einsam zurückbleibt, ist weder für Molière noch für Anne Lenk eine Frage, sondern gesellschaftliche Gewissheit. Also nur zu, im fröhlichen Reigen doppelzüngiger Freundlichkeit. Bestehen kann nur, wer die Sache nicht ganz so ernst nimmt, und über die systematische Fehlbarkeit des Menschen lächeln kann. Philinte und Éliante wollen es zumindest gemeinsam versuchen. Als sie den ersten Schritt aufeinander zu tun, bricht der Abend im Dunkeln ab ...
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