Mannheim. „Meldet sich also niemand?“
Eine Frage, wie sie ein*e Lehrer*in in einen Klassenraum voll müder Schüler*innen hinein stellen könnte. In dem Text „Heldentum in Gurs“, in dem Dr. Ludwig Mann, ein jüdischer Arzt aus Mannheim, von seiner Gefangenschaft im größten französischen Internierungslager berichtet, birgt diese für sich genommen so harmlose Frage einen kaum vorstellbaren Subtext.
Sie fragt nach nichts weniger als der Bereitschaft, das eigene Leben für das einer fremden Person einzutauschen, sich freiwillig einem Todesurteil zu unterwerfen. Sie fragt nach Selbstlosigkeit, nach Mitgefühl, nach stillem Widerstand.
Dr. Ludwig Mann und seine Frau Anna Mann kamen 1940 ins Camp de Gurs
Das Camp de Gurs war eines von rund hundert Internierungslagern entlang der spanisch-französischen Grenze, in denen ab 1939 zunächst Kämpfer*innen des spanischen Bürgerkriegs eingesperrt wurden. Später auch französische Kommunist*innen, politische Häftlinge, „feindliche Ausländer*innen“, jüdische Flüchtlinge, Prostituierte und ethnische Minderheiten.
Diese Lager wurden im Auftrag der Nazis vom französischen Vichy-Regime betrieben. Das Camp de Gurs in der gleichnamigen französischen Ortschaft, war das größte von ihnen; zwischen 1939 und 1943 wurden dort über 60 000 Menschen festgehalten.
Über Stolpertexte
- Das Leo Baeck Institut New York/ Berlin hat sein Archiv für Autorinnen und Autoren geöffnet. Dabei wurde ein einzigartiges Literaturprojekt initiiert, das am 21. März auf der Leipziger Buchmesse 2024 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wird.
- Unter dem Titel "Stolpertexte" sind Autorinnen und Autoren auf die Spur von Lebenszeugnissen deutscher Juden im Nationalsozialismus gegangen, deren persönliche Dokumente im Archiv des Leo Baeck Instituts gesammelt sind. Daraus sind literarische Texte entstanden, die, ähnlich den Stolpersteinen in europäischen Städten, an die Leben und Hoffnungen der Menschen erinnern, denen unter der Nazi-Terrorherrschaft alles genommen wurde.
- Fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind kaum mehr Zeitzeugen am Leben, die von Terror und Shoah berichten können. In Archiven wie dem Leo Baeck Institut sind zehntausende solcher Zeugnisse gesammelt. Hinter manch lapidarem Brief versteckt sich eine Tragödie, an letzten Fotos erkennen wir die Spur eines nicht mehr gelebten Lebens. Ein Verkaufsdokument erweist sich als dramatischer Wendepunkt im Leben eines Menschen.
- 2022 schrieb der Schriftsteller Bernhard Schlink einen exklusiven Stolpertext für den "Mannheimer Morgen" über die Mannheimerin Liselotte Sperber, die ihre Heimat aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verlassen musste.
Hierher wurden am 22. und 23. Oktober 1940 im Rahmen der sogenannten „Wagner-Bürckel-Aktion“ über 6500 Jüdinnen und Juden aus Baden und der Saarpfalz deportiert, unter ihnen auch Dr. Ludwig Mann und seine Frau Anna Mann. Von Gurs aus wurden die Juden und Jüdinnen ab 1942, infolge der Wannseekonferenz, über Drancy (ebenfalls ein Internierungslager) nach Auschwitz-Birkenau, Sobibor und andere Vernichtungslager verschleppt und größtenteils ermordet.
Das von Stacheldraht umzäunte Camp de Gurs bestand aus circa 380 Holzbaracken, in denen jeweils 50-60 Menschen Platz finden mussten. Die Baracken, die kaum Schutz boten gegen Wind, Kälte und Hitze, waren weder mit Trennwänden noch mit sanitären Anlagen ausgestattet; statt Fenstern gab es nur unverglaste „Lichtluken“, die mit Holzklappen verschlossen wurden.
Die Deportierten mussten zunächst auf dem nassen Boden schlafen, erst später wurden Strohsäcke gebracht. Bereits in den ersten Wochen starben viele der Deportierten aufgrund der schrecklichen Lebensverhältnisse im Winter 1940/41.
Hierher wurde das Ehepaar Mann aus ihrer Heimat Mannheim verschleppt. Dr. Mann wurde einer der Lagerärzte, die sich um die vielen gesundheitlichen Beschwerden der Gefangenen kümmerten. Eine Position, die ihm einen gewissen Einfluss in der Lagerhierarchie verschaffte, den er nutzte, um sich für Mitgefangene einzusetzen.
Dr. Ludwig Mann beginnt, die "stillen Heldentaten" zu dokumentieren
In seinem Bericht „Heldentum in Gurs“ erzählt er von den „stillen Helden, die niemand für einen Helden hält“.
Die erste ist Johanna Geissmar, Kinderärztin aus Heidelberg und Leiterin eines der Lagerkrankenhäuser. Dr. Mann beschreibt sie als liebevolle und aufopferungsvolle Ärztin, die es selbst in der widrigen Umgebung von Gurs schaffte, ihren Patient*innen soviel Geborgenheit wie möglich zu geben. Johanna Geissmar meldete sich freiwillig für einen der Transporte nach Osten, zum einen, weil sie hoffte, ihre aus München deportierten Geschwister zu finden, aber auch, weil sie den Kranken und Schwachen zur Seite stehen wollte. Trotz vielfacher Versuche, sie umzustimmen, blieb sie bei ihrer Entscheidung. „Man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Auch von ihren Geschwistern nicht, die sie finden wollte“, schließt Dr. Mann seinen Bericht über sie ab.
Die Menschen in Gurs wussten zu diesem Zeitpunkt durchaus, was es mit den Transporten auf sich hatte. Gerüchte machten die Runde. Dr. Mann schreibt: „Man wusste nichts und wusste darum alles. Man fühlte es. Es lag in der Luft.“
„Meldet sich also niemand?“
Der Bahnhof von Gurs. Ein Aufseher hat soeben die Liste derjenigen verlesen, die noch am selben Tag deportiert werden sollen. Eine der Frauen hat zuvor ein Telegramm erhalten. Ihr Ehemann ist auf dem Weg ins Lager, nachdem sie jahrelang nicht wusste, was aus ihm geworden war. Sie kann bleiben, wenn jemand anderes ihren Platz einnimmt.
„Eine fürchterliche Schwere liegt in der Luft. Minutenlang. Minutenlang der Druck des Schweigens. Jeder hofft auf ein erlösendes Ja von irgendwoher, jeder fürchtet das Wort der Aufforderung, das Ja zu hören. Furcht und Hoffnung versinken in das Schweigen hinein zu einer qualvollen Spannung.“ Schließlich richtet der Sicherheitschef seine Frage direkt an einen Einzelnen, einen jungen Schauspieler, den Dr. Mann von seinen Auftritten im Lager bereits kennt. Er gehört zu den Glücklichen, die heute nicht in den Zug einsteigen müssen.
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„Wollen Sie für die Arme mit?“
Der Schauspieler verneint, schüttelt stumm den Kopf und „schweigend versteht man den jungen Mann, schweigend versteht man die zerbrochene Frau, keiner kann in sich selbst eine Entscheidung finden“.
Der Befehl zum Aufbruch ertönt. Alles muss schnell gehen.
„Ich gehe mit“, ruft der junge Schauspieler plötzlich in das Durcheinander.
„,Ich gehe mit’ klingt es durch hunderte von Herzen. ‚Ich gehe mit’ erschüttert Alle. Allen, die ins Elend wandern müssen, wird es leichter ums Herz. Die in den Tod gehen, strecken ihm die Hände entgegen, die Erlöste kniet nieder und küsst die von ihren Tränen benetzten Hände.“
Unzählige Schicksale von Deportieren bleiben bis heute unerzählt
Wir wissen nicht, was mit der geretteten Frau passierte, ob sie ihren Mann wiedergefunden, ob sie die Shoah überlebt hat. Wir wissen nicht, wie es dem Schauspieler erging.
Für Dr. Mann ist dieses Handeln ein Akt selbstloser Nächstenliebe, ein Grund zur Hoffnung, wo es kaum Hoffnung gibt.
„Fragt in Theresienstadt, in Mauthausen, in Auschwitz, in Buchenwald, fragt überall herum. Ihr werdet nichts erfahren! Sie sind verschollen, sie sind erschossen, sie sind gehängt, sie sind vergast, sie sind verbrannt. Und ihr werdet sie nie mehr sehen, nie mehr etwas von ihnen hören, von niemandem dieses Transports.“
Was Dr. Mann beschreibt und würdigt, sind keine Momente des Aufstands oder der Rebellion. Kein Ausbruchsversuch, kein Anschlag auf die Wachen wird hier erzählt. Vielmehr beschreibt er auf eindringliche Weise Menschen, die sehenden Auges in den Tod gehen, um einander beizustehen.
Es ist eine ganz spezielle Form des Widerstands. Es ist eine Weigerung, angesichts der Unmenschlichkeit der Nazis, die eigene Menschlichkeit zu vergessen. Dr. Mann erzählt von außergewöhnlichen Momenten der Empathie und des Zusammenstehens, verurteilt aber keineswegs diejenigen, sie sich anders verhielten.
„Es gab sicher noch viel mehr Heldentum in diesen finsteren Tagen des Versteckens vor den Häschern, nur wissen wir nichts davon. Wir wollen auch derer gedenken, von denen wir nichts wissen. Wir wollen aller gedenken, auch derer, die verzweifelt waren und weinten.“
Anna und Ludwig Mann überlebten die Shoah. Nach ihrer Befreiung lebten sie in Beaumont de Lomagne, wo Dr. Ludwig Mann 1949 starb. Er ist dort begraben. Anna Mann zog daraufhin nach London und lebte dort bis zu ihrem Tod im Juni 1972.
Dieser Text entstammt aus der Reihe Stolpertexte. Autorinnen und Autoren aus Deutschland schreiben literarische Texte über die Schicksale deutschsprachiger Jüdinnen und Juden, die das Leo-Baeck-Institut seit 1955 sammelt und zugänglich macht. Da es sich um einen Gastbeitrag handelt, folgen wir der Schreibweise des Autors mit Genderstern.
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