Mannheim. Eine kleine Warnung gibt es schon beim Eintritt in die Alte Feuerwache: Ziemlich laut könne es werden in den ersten Stuhlreihen. Man dürfe gern nach hinten ausweichen. Ein volles Brett an Sound knallt das Ben LaMar Gay Ensemble dann bei seinem Enjoy Jazz-Auftritt in Mannheim wirklich auf die Bühne, und zu Anfang ist der Wumms, den insbesondere die elektronische Verstärkung und Verfremdung mit sich bringen, sogar fast ein bisschen übersteuert. Aber stärker als die schiere Phonzahl wirkt der abenteuerliche und wild collagierte Genre-Mix, das hoch kochende Klanggebräu dieses Ensembles - das in Mannheim allerdings „nur“ in Quartettbesetzung spielt.
Der Hauptperson Ben LaMar Gay quillt Kreativität aus allen Poren. Gay stammt aus Chicago, offenbar noch immer Hauptstadt dessen, was vom Avantgarde-Jazz in Amerika geblieben ist. Es scheint gar nicht so wenig. Doch das Potenzial des Mannes hat sich offenbar nur teilweise bis in die hiesige Region herumgesprochen, denn die Alte Feuerwache ist nur teilbestuhlt. Und teilbesetzt. Ein paar Minuten vor dem Auftritt legt der Leader weithin unerkannt und unbehelligt einen kleinen Stapel Tonträger auf einen Tisch. Nach dem Konzert indessen wird man sich an ihn und sein Quartett erinnern.
Ben LaMar Gay
- Ben LaMar Gay, geboren 1984, wurde an der „Southside“ von Chicago groß. Er war danach sechs Jahre lang Musiklehrer an öffentlichen Schulen und trat außerdem der Musikervereinigung AACM bei, deren „Hausband“ lange Zeit das Art Ensemble of Chicago war - eine Bastion des Avantgarde-Jazz in Amerika.
- Später ging LaMar Gay für ein paar Jahre nach Brasilien, was ihn ebenfalls bis heute prägt.
- Seit dieser Zeit tritt er auf vielen Plattenproduktionen in Erscheinung, nicht nur seinen eigenen. Er hat etwa auch Makaya McCraven unterstützt - der demnächst gleichfalls einen Enjoy Jazz-Termin in Mannheim haben wird: am Donnerstag, 10. November, wieder in der Alten Feuerwache. Wie Ben LaMar Gay. hgf
Was da von der Bühne tönt, hört sich umwerfend neu und originell an. Was es oft auch wirklich ist. Aber zugleich knüpft LaMar Gay an eine an die 60 Jahre alte Tradition an: eine Tradition der „Great Black Music“, die in jener fernen Zeit auch Teil der schwarzen Bürgerrechtsbewegung war. Verkörpert wurde sie vor allem durch das legendäre Art Ensemble of Chicago, und gewisse Praktiken von LaMar Gay darf man durchaus als deren Fortschreibung verstehen: wie etwa die Allusionen an Musique concrète, Soul, Bebop, Voodoo oder theatralische Performances. Und immer wieder diese ausgedehnten Ausflüge nach Afrika, dem Ursprungsland von allem. Schließlich auch die Neigung zum Sarkasmus. Oder wenigstens zur Ironie.
Rhythmus hält alles zusammen
Bereits beim Art Ensemble gab es auch den Trend, Percussion-Instrumente aufzuwerten und zu Trägern des melodischen Geschehens zu befördern. Bei Ben LaMar Gay und seinen Kombattanten wird das nicht bloß an der Stelle aufgegriffen, wo ein kleines Glöckchen-Ritual einen Moment von Klangmagie erzeugt. Das Spiel der Band ist ungemein verschlungen, aber gleichzeitig auch eng verzahnt und sehr kompakt. An Unisono-Stellen bündelt sich das musikalische Geschehen. Und der Rhythmus hält das Ganze ohnehin zusammen. Dafür sorgt Tommaso Morettis hoch agiles Schlagzeugspiel.
Die Tuba von Matt Davis zeichnet Bassfiguren, die aus einem medizinballgroßen Schalltrichter herausdrängen. Der Gitarrist Will Faber füllt die letzten Leerstellen. Aber er kann mit LaMar Gay und Davis auch ein Flöten-Trio bilden, das eine so paradiesisch leichte, luftige Musik erstehen lässt, dass man sich an den Amazonas-Quellen wähnt (denn auch Brasilien ist für LaMar Gay ein ziemlich großes Thema). All das bleibt mit voller Absicht flüchtig und vorübergehend, Genres werden hier nur angedacht und angedeutet. Dann geht es auf diesem großen Sound-Trip schon zur nächsten Attraktion.
Zurück nach Afrika
Was LaMar Gay, von Hause aus Trompeter oder vielmehr Kornettist, in seinen vielen „Spoken Words“ verhandelt, ist im Mannheimer Konzert nur auszugsweise zu verstehen. Mit Erläuterungen seines Tuns hält sich der Meister meist diskret zurück. Man muss sich schon über die Texte beugen, die auf seiner von ihm warmherzig beworbenen CD-Aufnahme „Open Arms To Open Us“ enthalten sind. Es geht dabei auch um die Missstände in Afrika, und selbst die HipHop-Wurzeln, die bei LaMar Gay oft durchdringen, scheinen in seinem Fall bis zu dem Kontinent zurückzureichen, wo vor langer Zeit Vieles begonnen hat. Mit „Open Arms To Open Us“ werden Jahrhunderte und Kontinente überspannt. Aber vor allem unterstreicht der Abend, dass die Avantgarde im Jazz noch eine Zukunft hat. Auch wenn die Elektronik manchmal wie in einem uralten Science-Fiction-Film knattert und fiepst.
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