„Powers of 10“ heißt ein Kurzfilm von Charles und Ray Eames aus dem Jahr 1977, der mit der relativen Größe von Dingen spielt. Fokussierend auf eine Picknickszene, entfernt sich die Kamera in Zehnerpotenzschritten vom Motiv und erreicht in wenigen Minuten eine Höhe von 1024 Metern - die Grenze des damals erforschten Weltalls. Vor dort zoomt das amerikanische Künstler- und Designerpaar zurück auf die picknickenden Menschen und bis hinein in den Kern einer menschlichen Körperzelle. Zu einer ähnlichen Reise an die Enden des Universums lädt Ivàn Perez, der künstlerische Leiter de Dance Theatre Heidelberg, sein Publikum bei der Uraufführung von „Reality and the Cosmos“.
Doch sein Ansatz ist nicht mathematisch-naturwissenschaftlich. Perez stellt philosophische und ganz persönliche Fragen, die von den unendlichen Weiten direkt in die Tiefen der menschlichen Psyche führen: Woher rührt unsere Faszination für Sterne und Planeten? Gibt es Anfang und Ende? Und was lernen wir beim Blick in den Nachthimmel über uns selbst?
Das Bühnenbild der japanischen Szenografin und Multimediakünstlerin Yoko Seyama suggeriert selbst Unendlichkeit: Zerknitterte Silberfolie bespannt eine große Fläche vor der schwarzen Rückwand. Auch die Seiten versinken in Schwarz; von oben hängen Seile bis auf Kniehöhe herab, die Querstreben mit Scheinwerfern tragen. Das Licht im Saal ist noch an, als aufmerksame Zuschauer die ersten Bewegungen wahrnehmen: Lautlos, in Zeitlupe und scheinbarer Schwerelosigkeit schieben sich schwarz gewandete Gestalten in diesen Kosmos, in dem ein einsamer Cellist auf seinen Einsatz wartet. Einige tragen Instrumente - es sind Musiker des Philharmonischen Orchesters Heidelberg, die sich unter die zwölf Tänzerinnen und Tänzer gemischt haben.
Die düstere Cellosuite Nr. 5 in c-Moll von Johann Sebastian Bach erklingt, als sie sich zu ihren Plätzen auf der Bühne vorarbeiten. Und während die Seile mit den Leuchten nach oben gezogen werden, schwebt langsam ein schwarzer Flügel herab. Was für ein Auftakt!
Perez hat die gut einstündige Choreographie in vier Szenen gegliedert. Auf Bach folgt „In C“ von Terry Riley, dem Pionier der Minimal Music, dessen 53 musikalischen Phrasen sich das 15-köpfige Orchester unter der Leitung von Heidelbergs Generalmusikdirektor Elias Grandy rund 30 Minuten lang widmet. Waren die Tänzer in der ersten Szene noch dunkle Materie und in die schwer erscheinenden, plustrig-voluminösen Kostüme von Sophie Durnez gehüllt, zeigen nun ihre flatternden Hemdchen, die sie zum Teil von Hand bunt bedruckt hat, die erste Transformation: Wie Planeten bewegen sich die Ensemblemitglieder in Ellipsen und endlosen Achten. Sie folgen einzelnen Leitsternen als Gruppe in sich wiederholenden Schrittfrequenzen und Bewegungsmustern, um zwischendurch in eigenen Umlaufbahnen ganz individuell zu agieren.
Kraftvolles Solo
Ja: Das bringt gewisse Längen und Redundanzen mit sich, aber als die Zeit sich gerade zu dehnen beginnt, folgt Szene drei: das Allegro con brio aus Beethovens Fünfter Sinfonie - wieder in c-Moll und gespielt von einer siebenköpfigen Bläsergruppe, die die Schwerelosigkeit von Streichern und Klavier durch irdische Dynamik ablöst. Jochem Eerdekens’ kraftvolles Solo und der schicksalhafte Kampf seiner Mittänzer gegen die wirkenden Kräfte erhalten spontanen Szenenapplaus des Publikums, das alle Mitwirkenden später begeistert feiern wird. Dass die Wechselphasen zwischen den Szenen zum Teil unnötig lang dauern und den Flow des Stücks unterbrechen? Geschenkt. Tänzer, Musiker und Zuschauer finden sofort wieder zueinander.
Endgültig „down to earth“ ist das Stück in der vierten Szene angekommen. Das ausgeklügelte Lichtkonzept von Ralph Schanz verwandelt die zeitweise rot, grün und violett schimmernde Silberfolie in den Sternenhimmel einer romantischen Sommernacht, und Perez’ Choreographie ist auf der Mikroebene angekommen. Sein Spiel mit Motiven der Anziehungskraft, von Konformität und Individualität, von Chaos und Ordnung gestattet den Tänzern endlich auch Berührungen, die sie als Duo, zu dritt und in der Gruppe ausleben, indem sie sich aneinanderschmiegen, gegenseitig tragen und einander zu gemeinsamen, synchronen Bewegungen einladen.
So entsteht (Zwischen-)Menschlichkeit, die von Lepo Sumeras „Piece from the Year 1981“ anrührend untermalt wird. Und während die Tänzer langsam im Schwarz der Bühnenseite verschwinden, setzt sich der beeindruckende Bühnenkosmos ein letztes Mal in Bewegung: Ein Rauschen legt sich über die letzten Klaviertöne und die Seile mit den Beleuchtungsstreben beginnen zu schwingen - ein Kometensturm, der langsam verglüht.
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