Ich treffe José Manuel Mora, mit Carlota Ferrer für die Auswahl des Gastlandprogramms verantwortlich, per Zoom-Schalte in seinem Zuhause in Madrid. Wir sprechen über das Theater in Spanien und die vier Gastspiele, die beim Heidelberger Stückemarkt zu sehen sein werden.
Herr Mora, warum fiel Ihre Wahl aus einer Vielzahl von zeitgenössischen spanischen Produktionen gerade auf diese vier Beiträge?
José Manuel Mora: Die spanische Theaterlandschaft ist in der Tat sehr vielfältig, sehr heterogen. Unsere Wahl sollte in jeder Hinsicht pluralistisch sein und fiel sowohl auf Produktionen aus dem etablierten Theater als auch aus der freien Szene, und zwar aus ganz Spanien. Allen ist gemeinsam, dass sie neue Strömungen aufweisen und humanistische Positionen beziehen. Zum Teil sind sie auch international bekannt. Wir zeigen die Produktionen zweier Regisseurinnen, Marta Pazos und Carlota Ferrer, die schon lange in der spanischen Theaterszene tätig sind und sich in der spanischen Theaterlandschaft für ihren oft ungewöhnlichen visuellen, konzeptionellen Ansatz einen Namen gemacht haben. Der Ästhetik von Pazos und Ferrer stellen wir zwei Produktionen der Theaterkollektive Señor Serrano aus Barcelona und Los Bárbaros aus Madrid an die Seite, die neben der Performance den Einsatz moderner Medien wie auch das Objekttheater in den Vordergrund stellen.
Heidelberger Stückemarkt
- Unter der Überschrift „Gegenwartsdramatik mit Perspektivwechsel“ findet vom 29. April bis 8. Mai der Heidelberger Stückemarkt statt.
- Am 7. und 8. Mai liegt der Fokus des Theaterfestivals auf dem Gastland Spanien. Zu sehen sind die Gastspiele „Die Erklärungen“ von Los Bárbaros und „Fragen ans Universum“ von José M. Mora (7. Mai) sowie „Birdie“ von Agrupación Señor Serrano und „Othello“ des Teatro Nacional São João & Voadora (8. Mai).
- Die szenischen Lesungen der vier nominierten spanischen Stücke am 7. Mai sind „Mein Italienfilm“ von Rocío Bello (12.30 Uhr), „Ich will die Menschheit ausroden von der Erde“ von María Velasco (13.30 Uhr), „Thanatologie“ von Xavier Uriz (14.30 Uhr) und „Die Feuerfesten (Universum 29)“ von Ruth Rubio (15.30 Uhr).
Wovon handeln die Theaterstücke?
Mora: „Birdie“ von Agrupación Señor Serrano greift mit einer Multimedia Performance das Thema Migration auf. Der Titel ist an Hitchcocks „Die Vögel“ angelehnt, um die dramatischen Bilder von Flüchtlingen zu evozieren, wie wir sie beispielsweise an der nordafrikanischen Grenze mit der Exklave Melilla erleben. Das katalanische Theaterkollektiv ist mit dieser Produktion international unterwegs und spielt unter anderem deshalb auf Englisch. Los Bárbaros thematisieren in „Die Erklärungen“ die Entvölkerung von Zentralspanien, wie sie vor allem in Kastilien und Aragon vor sich geht und der man mit der Ansiedlung von Flüchtlingen entgegenzuwirken versucht. Die Bilder, die die galizische Regisseurin Mata Pazos in ihrer Inszenierung von „Othello“ montiert, sind dagegen viel theatralischer, geradezu melodramatisch: Pazos „malt“ ihren „Othello“ geradezu. Und mit Blick auf das Personal Shakespeares bedient sie sich eines ungewohnten Perspektivwechsels: Alle Figuren werden von Desdemona erzählt. Nur sie spricht. „Fragen ans Universum“ in der Regie von Carlota Ferrer - übrigens einer meiner Texte - ist ein vielstimmiger Text, der gewissermaßen gleichnishaft den Prozess der Kreation, auch den Schreibprozess, und Mutterschaft behandelt. Der kreative Prozess steht sozusagen selbst im Mittelpunkt.
Können wir bei Ihrem Stück „Fragen ans Universum“ von einem Work in Progress sprechen?
Mora: Nicht wirklich. Unsere Produktion ist abgeschlossen, wenn sie auf die Bühne kommt. Es geht Carlota Ferrer und mir mehr um den Schaffensprozess, den wir in der Pandemie, in der Krise durchlaufen haben. Unsere Produktion ist eher minimalistisch, ein Kammerspiel, in dem Rituale eine große Rolle spielen. Unser zentrales Anliegen ist es, unter anderem mit Texten von Platon und aus der Bibel, die Existenz des Menschen zu hinterfragen: Welchen Sinn hat unser Dasein, welche Verantwortung haben wir für unseren Planeten?
Welche anderen Themen finden sich in den spanischen Gastbeiträgen wieder? Auf deutschen Bühnen legen die Autorinnen und Autoren aktuell viel Nachdruck auf Geschlechtergerechtigkeit und das Gendern.
Mora: Gegendert wird auch in Spanien. Die Sorge um eine inklusive Sprache geht die Probleme der Marginalisierung meiner Meinung nach aber allerdings nur sehr oberflächlich an. Was wir brauchen, ist eine wahrhafte, politische Gleichheit und nicht eine manchmal schon psychotisch anmutende Besorgtheit um politische Korrektheit. Soll es primär um die Frage gehen, welche Endungen wir anhängen, wenn wir etwas sagen oder wenn wir unsere Charaktere auf der Bühne sprechen lassen? Geht es nicht vielmehr darum, die Strukturen des Patriarchats aufzudecken?
Aktuell sind auf den deutschen Bühnen viele Klassikerüberschreibungen zu sehen. Wie geht man in Spanien mit klassischen Werken um?
Mora: Ja, da sind die Deutschen gut! Die konsequente Klassikerüberschreibung ist auf spanischen Bühnen eher selten. Wir erleben in Spanien mehr Adaptationen, ohne Vorannahmen, nichts ist selbstverständlich.
Welche Erwartungen verbinden Sie mit Ihrer Teilnahme am Heidelberger Stückemarkt?
Mora: Mir geht es unter anderem darum den Theaterraum wieder als sakralen Raum zurückzugewinnen. Aber wenn ich es mit meinem Beitrag auch nur erreiche, Räume zu schaffen, in denen sich Menschen treffen und austauschen und sich dabei auch etwas mit sich selbst auseinandersetzen können, dann bin ich zufrieden.
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