Lesung

Angela-Merkel-Momente in Heidelberg am laufenden Band

Alt-Kanzlerin Angela Merkel begeistert in Heidelberg mit ihrer Autobiografie „Freiheit“ und einem bewegenden Appell für Demokratie und Verantwortung.

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Witzig und tiefsinnig: Angela Merkel bei der DAI-Lesung in der Neuen Aula. © Sarina Chamatova / DAI Heidelber

Heidelberg. Es dürfte der schönste Moment dieses Abends sein. Angela Merkel – der Blazer ist diesmal bordeauxrot, die Hose wie fast immer schwarz – kann sich das verschmitzte Merkel-Lächeln nicht verkneifen, wenn sie sagt: „So, ich habe jetzt nur noch ein Ende – und eine Hausaufgabe für Sie …“ Ein raunendes Lachen geht durch den voll besetzten Saal. „Ich lese noch aus dem Epilog.“

Im Epilog ihres knapp 750 Seiten starken Buches wird dann auch deutlich, warum Merkels Autobiografie „Freiheit“ heißt. Nach einer Generalkritik an der Politikerzunft, der sie rät, auf konkrete Fragen auch konkret zu antworten, nach dem Bekenntnis, sie erwische sich selbst zuweilen dabei, „dass es mir schwerfällt, manchen Politikern in Interviews oder anderen öffentlichen Äußerungen zuzuhören, weil sie viel sprechen, aber wenig sagen“, ist es am Ende der rund 100 Minuten in der Aula der Neuen Heidelberger Universität gerade der Freiheitsbegriff, der die Menschen bewegt: „Wahre Freiheit“, liest Merkel, zeige sich in der Verantwortung für den Nächsten, für die Gemeinschaft, für unser Gemeinwesen.

Angela Merkel sagt „Dankeschön und einen guten Heimweg!“

Dann biegt sie auf die Demokratiestraße ab. Freiheit brauche demokratische Bedingungen, ohne Demokratie gebe es keine Freiheit, keinen Rechtsstaat, keine Wahrung der Menschenrechte: „Wenn wir in Freiheit leben wollen, müssen wir unsere Demokratie im Inneren und nach außen gegen die verteidigen, die sie bedrohen. Das kann gelingen, wenn wir zusammenarbeiten. Wenn wir uns gemeinsam engagieren. Jede und jeder für sich und wir alle miteinander.“ Dann kommt der letzte Satz ihres Buches: „Denn Freiheit kann es nicht nur für den Einzelnen geben, Freiheit muss für alle gelten.“

Autorin im Dienst: Angela Merkel

  • Die Autorin: Angela Merkel wurde 1954 in Hamburg geboren und wuchs in der DDR auf. Nach ihrem Studium der Physik und ihrer Promotion arbeitete sie zunächst als Wissenschaftlerin in Ost-Berlin. Nach der Wende engagierte sie sich politisch und stieg in der CDU schnell auf. Von 2005 bis 2021 war sie die erste Bundeskanzlerin Deutschlands und prägte das Land sowie Europa entscheidend.
  • Das Buch: Angela Merkel – „Freiheit“. Kiepenheuer & Witsch. 736 Seiten, 42 Euro.

Das sitzt. Applaus brandet auf. Merkel wusste es vorher schon und spürt es jetzt: Das war ein Volltreffer. Sie steht auf. Das Publikum steht auf. Es ist eine applaudierende Ehrerbietung. Lena Jöhnk, Direktorin des veranstaltenden Deutsch-Amerikanischen Instituts, kommt auf die Bühne, ein Herr mit einem Blumenstrauß, und Merkel genießt – sichtlich gerührt und stolz – einfach nur die minutenlange Euphorie der Menschen. So geht sie dahin, mit Blumenstrauß und der Gewissheit, dass sie immer noch verehrt, respektiert, ja, geliebt wird. Davor aber gibt es noch verbal etwas Menschliches von ihr: „Dankeschön und einen guten Heimweg!“ Das ist das Letzte, was Angela Merkel in Heidelberg öffentlich sagt. Mit ihrer Crew an Bodyguards verschwindet sie links hinter die Bühne.

Durchaus amüsant: Angela Merkel gastiert mit dem DAI in der Aula der Neuen Universität Heidelberg. © Sarina Chamatova / DAI Heidelber

Der Abend beginnt ja schon mit einem Augenzwinkern: Noch während Jöhnk ihre Begrüßungsworte spricht, während sie die Demokratie hochhält und erinnert, dass „Freiheit nie selbstverständlich“ sei, scheint es „Angie“ – offenbar von kindlicher Vorfreude beherrscht – kaum erwarten zu können, endlich ins Rampenlicht zu treten. Sie wirkt neben der Bühne freudig nervös und macht irgendwann ihr Markenzeichen: die Merkel-Raute. Lachen im Saal. Klatschen. Von da an gibt es kein Halten mehr. Sie geht auf die Bühne, ach, sie nimmt die Bühne für sich ein.

Dort gibt schon das Setting die Richtung vor: Ein Tisch. Eine Karaffe mit (mutmaßlich) Leitungswasser. Ein Glas. Eine Uhr. Ein Mikro. Es geht nicht um Show. Es geht um Inhalt. Die Pastorentochter mag es puristisch bis spartanisch, ein bisschen, denkt man, umgibt sie schon der Hauch des Understatements, schließlich weiß sie ja, dass sie das Zeug zum Popstar hat, ja, im Grunde immer noch einer ist. Angela Merkel ist zwar Bundeskanzlerin a.D. Sie ist aber nicht Angela Merkel a.D.

So sitzt sie also da, plaudert wenig, liest viel und schafft es eigentlich stets, im Ton fließend vom einen zum anderen zu wechseln. Sie sagt eine Binsenweisheit: „Ich bin nicht als Kanzlerin geboren worden“ und erklärt dann, dass es sogar außerordentlich unwahrscheinlich für sie war, Kanzlerin zu werden. Später wird sie aber sagen, dass sie doch drei Vorteile hatte gegenüber vielen anderen Kandidaten: „Ich war eine Frau. Ich kam aus dem Osten. Und ich war jung. Und davon gab es damals (sie meint die Jahre 2003 bis 2005) nicht so viele in der CDU.“

„Es gibt da einen amerikanischen Präsidenten, der …“

Sie streift in chronologischer Reihenfolge ihre glückliche Kindheit, die Schule, das Studium und die Versuche der Staatssicherheit, sie zu vereinnahmen, sie gibt Einblicke in ihr politisches Wirken und wie sie schon ziemlich froh war, endlich auf dem Kanzlerstuhl im Bundestag sitzen zu dürfen, der dann zum „Kanzlerinnenstuhl“ wurde, wie Merkel mit ihrem trockenen Humor bemerkt. Offen spricht sie über ihre Ostvergangenheit, die sie immer wieder mal in schwierigen Situationen eingeholt hat. Sie sagt: In der DDR gab es auch Leben. Die DDR war nicht nur ein Staat.

Es ist, wie erwartet: spektakulär unspektakulär. Merkels Haltung, ihre Stimme und der ganze Habitus kommen einem so vertraut vor, dass sich wie automatisch das Wort „Mutti“ ins Gehirn schleicht. Der Abend ist rührend, nostalgisch mit einem Quantum Ostalgie, bisweilen etwas sentimental und sehr oft witzig: Merkel spricht über Krisen und ihr Wirken und will anmerken, dass sich etwas Wesentliches auf der Welt verändert hat: „Es gibt da einen amerikanischen Präsidenten, der …“ Es entsteht eine lange Pause, weil Merkel nach Worten ringt, und genau diese Leere, der Hinweis darauf, dass einem zu Donald Trump die Worte fehlen, verursacht den heitersten Moment des schönen Abends, der schließlich an vielen Beispielen aufzeigt, dass die erste deutsche Bundeskanzlerin (2005 bis 2021) eine echte Humanistin war und ist.

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Sie ist halt echt eine Nummer. Allein ihre Nicknames zeigen ja, dass man sie liebgehabt hatte. Und hat. Weder von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder noch von ihren Nachfolgern Olaf Scholz und Friedrich Merz wird man das sagen können. Alle drei bleiben – um Robert Musil zu zitieren – Männer ohne Eigenschaften. Angela Merkel als Vorleserin im Dienst – ach, da will man doch einfach sitzen bleiben und sich alle 736 Seiten über die 1075 Gramm wiegende „Freiheit“ vorlesen lassen.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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