Moskau. Als vor einem Jahr die Bilder der Zerstörung in der Ukraine um die Welt gingen, kündigten viele Unternehmen an, ihre Geschäfte in Russland zu stoppen, oder sich aus dem Markt zurückzuziehen. Doch konsequent wurden die Ankündigungen bisher nicht umgesetzt.
Wenige Tage nach Kriegsbeginn erklärte der schwedische Möbelkonzern Ikea sämtliche Geschäfte in Russland zu „pausieren“. Warenlieferungen nach und aus dem Land wurden ausgesetzt, ebenso wie die Produktion. Wenigstens den russischen Mitarbeitern wolle man zunächst nicht kündigen, hieß es. Bis Juni liefen die Gehälter weiter, dann gab es Abfindungen. Die Geschäftstätigkeit in Russland werde weiter reduziert, meldete die Holding. Vollständig verlassen hat Ikea Russland aber offenbar noch nicht. Der Prozess der Reduzierung sei noch im Gange, erklärt eine Sprecherin.
Investitionen auf Eis gelegt
Das Beispiel zeigt, wie sehr internationale Firmen auch ein Jahr nach Beginn der Kampfhandlungen mit der Situation ringen. Wer sich komplett zurückzieht, riskiert hohe Verluste, wie zuletzt bei der BASF-Tochter Wintershall Dea. Und auch, wer zumindest einen Teilbetrieb aufrechterhält, ist mit Schwierigkeiten konfrontiert: Logistik und Lieferketten müssen oft völlig neu aufgesetzt werden.
Nur eine kleinere Zahl der Unternehmen hat den Markt völlig aufgegeben
Das Bezahlen ist kompliziert geworden, seit viele russische Banken vom internationalen Zahlungsinformationsdienst Swift ausgeschlossen sind. Viele Güter dürfen weder in Russland verkauft, noch exportiert werden. Betrieben, die gegen die Sanktionsauflagen verstoßen, drohen empfindliche Strafen. „Wer im Russland-Geschäft weiter aktiv ist, muss insbesondere die bisher neun Sanktionspakete der Europäischen Union beachten“, warnt Matthias Kruse, Geschäftsführer International der IHK Rhein-Neckar.
Das Ergebnis ist oft ein Durchlavieren: Viele Unternehmen hätten ihr Russland-Geschäft gleich nach dem Überfall auf die Ukraine heruntergefahren, erklärt Kruse. Geplante Investitionen wurden auf Eis gelegt, Lieferungen ausgesetzt.
Aus Rücksicht gegenüber ihren russischen Mitarbeitern und aus Angst davor, sämtliche Investitionen zu verlieren, zögern aber viele Unternehmen, ihre russischen Tochtergesellschaften zu liquidieren. „Um weiter Löhne auszahlen zu können“, so Kruse, „mussten Tochterfirmen formal bestehen bleiben, auch wenn sie de facto nicht mehr operativ waren“.
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Die renommierte Wirtschaftshochschule im schweizerischen St. Gallen und die internationale Wirtschaftshochschule für Managemententwicklung in Lausanne ermittelten in einer Studie, dass bisher weniger als zehn Prozent der in Russland aktiven Firmen aus den G7-Staaten und der EU das Land ganz verlassen hätten. „Nur eine kleinere Zahl der Unternehmen hat den Markt völlig aufgegeben“, sagt der Richard Wellmann, Partner bei der Hamburger Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft BDO. Im Vorteil war, wer sich früh entschied – etwa für einen sogenannten Management-Buy-out, also die Veräußerung an das Management vor Ort.
Druck unverändert hoch
Inzwischen hat der russische Staat einen Verkauf extrem erschwert: „Die Wertverluste sind beträchtlich“, erklärt Wellmann. Das Verfahren komme zumindest einer teilweisen Enteignung gleich, kritisieren Unternehmensvertreter. Zunächst muss ein Gutachter den Firmenwert ermitteln. Der Verkaufspreis darf 50 Prozent dieses Wertes nicht übersteigen. Außerdem müssen zehn Prozent der Verkaufserlöse an den russischen Staat abgegeben werden. „Im besten Fall dürfte ein Liquidationsverfahren momentan zwölf Monate dauern, oft auch deutlich länger“, so die IHK Rhein-Neckar.
Nach Angaben der deutschen Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (GTAI) flossen von Januar bis September 2022 rund 4,7 Milliarden Euro an deutschen Direktinvestitionen aus Russland ab. Der öffentliche Druck auf die Unternehmen, sich aus dem russischen Markt zurückzuziehen, ist unverändert hoch. Der US-Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sonnenfeld von der Yale University in New Haven veröffentlicht fortlaufend eine Liste mit Unternehmen, die sich seiner Meinung nach nicht radikal genug vom Russland-Geschäft gelöst haben.
Der Schokoladenhersteller Ritter Sport sah sich wegen seines Festhaltens am russischen Markt im Sommer mit einem regelrechten Shit-storm und Boykottaufrufen konfrontiert. „Ein vollständiger Rückzug aus dem russischen Markt wäre die einfachere Entscheidung mit symbolischer Wirkung, hätte aber auch drastische Auswirkungen auf unser gesamtes Familienunternehmen“, begründete eine Sprecherin gegenüber dem SWR. Russland sei für das Familienunternehmen der zweitwichtigste Markt. Würde das Unternehmen nicht mehr nach Russland liefern, müssten langjährige Mitarbeiter vor Ort entlassen werden. Auch an den Produktionsstandorten in Österreich und Deutschland seien dann Arbeitsplätze gefährdet.
Für viele Betriebe drohen überdies indirekte Folgen, sagt IHK-Experte Kruse, etwa wenn es zu vom Unternehmen nicht autorisierten Parallelimporten über Drittstaaten nach Russland komme. „Was passiert“, fragt Kruse außerdem, „wenn mein bisheriger russischer Kunde wegen ausbleibender Lieferungen mich vor einem russischen Gericht verklagt? Unklar ist, ob er ein Urteil anschließend in einem anderen Land, in dem mein Unternehmen über Vermögenswerte verfügt, vollstrecken lassen kann.“
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