Handball

Wie Ruhepol Gislason bei der WM ganz seinem Team vertraut

Die deutschen Handballer begeistern bei der WM - und das liegt auch an ihrem Trainer. Alfred Gislason galt einst als ernster Perfektionist. Doch der Isländer ist lockerer geworden und fühlt sich Deutschland tief verbunden.

Von 
Marc Stevermüer
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Bundestrainer Alfred Gislason spielt mit der deutschen Mannschaft am Samstag gegen die Niederlande. © Woitas/dpa

Kattowitz. Es ist ein Ritual. Kurz nach der Ankunft in der Spodek-Arena von Kattowitz dreht Alfred Gislason immer seine Runde. Der Handball-Bundestrainer spaziert langsamen Schrittes über das Spielfeld, lässt gedankenverloren und ganz allein den Blick über die noch leeren Ränge schweifen. Die Anspannung vor dem Spiel? Man sieht sie ihm nicht an. Doch sie steckt tief in ihm. Noch immer. Obwohl der 63-Jährige schon so viel erlebt hat.

Die „schlimmste Zeit für einen Trainer“ seien diese Momente. „Zu warten bis das Spiel beginnt. Das ist eine Qual, eine Tortur“, sagt Gislason. Und lacht. Was bei ihm anders als früher längst keine Seltenheit mehr ist.

Der Isländer sagt selbst über sich, ein wenig lockerer, vielleicht sogar weicher geworden zu sein – und hat damit zweifelsohne einen bemerkenswerten und vor allem unerwarteten Wandel vollzogen. Verkniffen und verbissen kam er einst als Bundesligatrainer beim THW Kiel rüber. Fast schon diktatorisch führte der Erfolgscoach seine Mannschaft. Nun ist er zwar immer noch ehrgeizig, lässt seinen Spielern aber Freiheiten. Der Isländer wirkt wie ein väterlicher Freund, der besonnen mit seiner Mannschaft spricht. Kurzum: Er geht auf die jungen Spieler ein – und die schauen zu ihm auf.

„Alfred ist eine Ikone, eine Legende, ein Riesentrainer. Ich habe ihn mein ganzes Leben auf der Bank gesehen. Jetzt arbeite ich mit ihm zusammen“, sagt Torwart Joel Birlehm, der kaum glauben kann, dass dieser Trainer nun sein Trainer ist. Der Schlussmann von den Rhein-Neckar Löwen hat großen Respekt vor diesem Fachmann.

Einem Fachmann, den Bob Hanning mit der prägendsten Figur des deutschen Handballs vergleicht. „Für mich ist Alfred Gislason der neue Heiner Brand“, schrieb der Ex-Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB) in der „Bild“. Der ehemalige Bundestrainer Brand, der 2004 Europa- und 2007 Weltmeister wurde, habe es „immer geschafft, seine Mannschaft über Ruhe und Persönlichkeit zum Erfolg zu führen. Genauso agiert Alfred.“

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Gislason, meint Hanning, lebe „in Ansehen und Ansprache vor allem von seiner Aura. Einer Aura der Unnahbarkeit. Einer Aura der Stärke.“ Ohne dabei jedoch auf Distanz zum Team zu gehen. Im Gegenteil. Gislason hat die Spieler hinter sich, was eine größere Bedeutung hat, als man bisweilen glaubt. Denn solch eine Mannschaftskabine ist ein sensibler Raum. Kleinere Störungen können da größere Wirkung haben. Doch es gibt keine Störungen, sondern nur ein großes Miteinander. Auch weil der einstige Schleifer Gislason loslassen kann.

In den Auszeiten überlässt er immer häufiger dem erst 22-jährigen Spielmacher Juri Knorr das Wort. Weil er ihm vertraut, weil er ihn machen lässt – und weil die Mannschaft nicht nur zwingend das im Angriff zeigen soll, was der Trainer will, sondern womit sie sich wohlfühlt. „Spielt, was ihr wollt“, ruft der Isländer seinem Team in einer Auszeit gegen Argentinien zu. Diese Worte seien „Ausdruck des Vertrauens“, sagt Co-Trainer Erik Wudtke: „Übersetzt sollte das heißen: Ihr spielt so gut, ich vertraue euch blind.“

Linksaußen Rune Dahmke kennt Gislason aus gemeinsamen Zeiten beim THW Kiel und betont: „Man merkt schon, dass ihm bewusst ist, eine junge Mannschaft zu trainieren. Alfred versucht, die Stimmung hochzuhalten.“ Damit gebe er dem Team „Gelassenheit“, wie Torwart Andreas Wolff festhält.

All das macht Gislason aber keinesfalls zu einem Gute-Laune-Onkel, sondern eher zu einem Menschenfänger. Auch das konnte man sich vor einigen Jahren nur schwer vorstellen. Eigentlich gar nicht. Wenngleich Gislason seine Vorstellen immer noch eindringlich formuliert. Nur lässt er seinen missionarischen Eifer weg und Spielern wie Knorr ihre Entfaltungsmöglichkeiten.

Weil Handball nicht nur Taktik, sondern auch Kunst und Spektakel ist. Knorr kann Kunst und Spektakel. Und Gislason lässt das zu.

Bei der Weltmeisterschaft in Polen und Schweden hat dieser Führungsstil die Mannschaft vor dem Schlüsselspiel gegen die Niederlande am Samstag (20.30 Uhr/live im ZDF) in eine gute Ausgangsposition gebracht. Ein Sieg sichert das Viertelfinale. Zudem sieht man eine Entwicklung, einen Fortschritt – und eine Perspektive.

Gislason hat diese Mannschaft zu seiner Mannschaft gemacht, er ist verliebt, vernarrt in sie und identifiziert sich nicht nur zu 100 Prozent mit seinen Spielern, sondern auch mit Deutschland. Dem Land, in dem er seit fast 30 Jahren lebt. „Ich fühle mich Deutschland sehr verbunden. Ich bewundere die Geschichte dieses Landes“, sagt der studierte Historiker, der stets die Nationalhymne mitsingt: „Aus Respekt vor Deutschland, weil ich diese Nation vertreten darf.“

Die größte Handballnation der Welt soll er bei der Heim-Europameisterschaft 2024 zu Edelmetall führen. Der Bundestrainer glaubt daran. Weil er von seiner Arbeit überzeugt ist. Im Übrigen eine Arbeit, mit der er den Vorwurf entkräftet, er könne nur mit fertigen Spielern etwas erreichen. So wie damals in Kiel.

Vielleicht war das einmal so. Doch selbst wenn, hat sich Gislason darauf nach seinem selbst gewählten Ende beim THW nicht ausgeruht, sondern sich weiterentwickelt, möglicherweise auch neu erfunden. Vielleicht ist er aber auch einfach nur mit der Zeit gegangen.

Redaktion Handball-Reporter, Rhein-Neckar Löwen und Nationalmannschaft

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