Henning Fritz ist einer der erfolgreichsten deutschen Handballer aller Zeiten. Im Interview mit dieser Redaktion spricht der ehemalige Weltklasse-Torwart über die nahende Europameisterschaft und den Umbruch im deutschen Team. Zudem verrät der 47-Jährige, wen er für einen guten Bundestrainer hält.
Herr Fritz, die deutschen Handballer haben zum Abschluss der EM-Vorbereitung den Olympiasieger Frankreich bezwungen. Dann ist ja in Ungarn und der Slowakei alles möglich, oder?
Henning Fritz (lacht): Für das Selbstvertrauen war es wichtig, solch eine große Handball-Nation zu besiegen. Dieser Erfolg gibt der Mannschaft ein gutes Gefühl, gerade weil sie nach dem Umbruch selbst nicht so genau weiß, wo sie steht. Letztendlich war es aber auch nur ein Test.
Vor jedem Turnier wird mittlerweile der sensationelle EM-Erfolg von 2016 herausgeholt. Ist es noch angebracht, eine Wiederholung zu beschwören?
Fritz: Es ist grundsätzlich Quatsch, ein zurückliegendes Turnier mit einem künftigen Turnier zu vergleichen. Selbst wenn jetzt die gleichen Spieler dabei wären, dürfte es schwierig werden, genau die gleiche Atmosphäre und die identische Stimmung wieder herzustellen. Es muss allerdings das Ziel sein, sich als Mannschaft in diese Richtung zu entwickeln. Denn ein deutsches Nationalteam zeichnet sich seit Jahrzehnten dadurch aus, dass es auch ohne eine Vielzahl an Ausnahmekönnern wie einst die Franzosen erfolgreich sein kann.
Sind Titelgewinne ohne exzellente Individualisten überhaupt noch möglich?
Fritz: Auf jeden Fall. Ich bin zumindest davon überzeugt. Es müssen in solch einem Fall aber wirklich auch sehr viele Rädchen ineinandergreifen, so wie das 2016 gelungen ist. Der Trainer gibt eine Taktik vor und sollte eine Idee haben, das ist klar. Aber das ist nicht alles. Es geht genauso um die Begeisterung, für die jeder Spieler auch selbst sorgen muss.
Henning Fritz – eine mit Titeln gepflasterte Karriere
- Privates: Henning Fritz wurde am 21. September 1974 in Magdeburg geboren. Er lebt in Östringen mit seiner Frau Babett.
- Jugendvereine: In der Jugend spielte er für Dynamo und TuS Magdeburg, es folgte 1988 der Wechsel zum SC Magdeburg.
- Profikarriere: SC Magdeburg (1992 bis 2001), THW Kiel (2001 bis 2007), Rhein-Neckar Löwen (2007 bis 2012).
- Comeback: Im Endspurt der Saison 20/21 half er noch einmal beim Bundesligisten SG Flensburg-Handewitt aus.
- Größte Vereins-Erfolge: deutscher Pokalsieger 1996, 2007; Champions League-Sieger 2007; EHF-Pokalsieger 1999, 2001, 2002, 2004; Meister 2001, 2002, 2005, 2006 und 2007.
- Erfolge mit Nationalteam: Olympia-Silber 2004, Europameister 2004, Weltmeister 2007.
- Auszeichnungen: Welthandballer 2004, Deutscher Handballer des Jahres 2004.
- Nach der Karriere: Co-Kommentator bei Sky.
Angesichts der vielen Absagen vermisste Ihr langjähriger Kollege Stefan Kretzschmar zuletzt bei manch einem Spieler die Begeisterung fürs Nationalteam. Wie sehen Sie das?
Fritz: Ein schwieriges Thema, bei dem jeder Spieler für sich entscheiden muss. Bei mir schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Für mich kam es in meiner aktiven Zeit nicht infrage, Turniere mit der Nationalmannschaft abzusagen, weil ich um die Besonderheit wusste. Andererseits diskutieren wir seit mehr als 20 Jahren über die zu hohe Belastung für die Spieler, doch wirklich etwas geändert hat sich nichts. Wir dürfen nicht vergessen: Handballprofi ist ein Beruf - und zwar ein zeitlich begrenzter.
Was bedeutet das?
Fritz: Die Gehälter bezahlen die Vereine. Und wenn der Verschleiß zu groß ist, gibt es keinen neuen Vertrag. Dann ist auch die Karriere schneller vorbei. Deswegen gilt es, auf seinen Körper zu achten und ihm auch mal eine Pause zu gönnen. Schauen wir uns nur Paul Drux und Fabian Wiede an. Beide kamen in jungen Jahren in die Bundesliga, beide haben in jungen Jahren schon viele Spiele bestritten und beide haben auch schon viele Verletzungen erlitten. Ich kann deshalb die Argumentation nachvollziehen, wenn jemand mal ein Turnier auslässt. Mal abgesehen davon, dass man die verpasste Zeit mit der Familie nicht zurückbekommt.
Sie kennen den neuen DHB-Kapitän Johannes Golla aus Ihrem Flensburger Intermezzo recht gut. Ist er der richtige Mann für dieses Amt?
Fritz: Johannes ist ein sehr reflektierter Spieler, absolut klar im Kopf, eine authentische Persönlichkeit. Es war eine sehr gute Entscheidung, ihn zum Kapitän zu machen. Aber: Johannes Golla darf nicht verbrannt werden. Da müssen alle aufpassen. Er ist noch ein junger Mensch, trägt aber schon jetzt viel Verantwortung im Verein, er spielt im Club und bei der Nationalmannschaft immer, bekommt jetzt noch die Aufgabe als Kapitän dazu und ist Papa geworden - da kommt eine Menge zusammen. Bislang löst er das außergewöhnlich gut. Ich wünsche ihm, dass er noch sehr lange die Energie und Kraft hat, das alles so fortzuführen.
Die Deutschen treten bei der EM ohne konkretes Ziel an. Haben sie deshalb auch keinen Druck?
Fritz: Es ist egal, in was für einer Konstellation eine deutsche Mannschaft zu einem Turnier fährt. Die Erwartungen sind immer hoch. Auch die eigenen. Davon bin ich überzeugt. Und das ist auch richtig so. Denn die Qualität ist ganz einfach da. Mit einer guten Abwehr ist immer sehr viel möglich. Die Deckung - und da erzähle ich nichts Neues - ist die Basis. Und Abwehrarbeit hat meiner Meinung nach nicht ausschließlich etwas mit Talent zu tun, sondern das ist eine Willenssache. Es geht um die Frage: Wie sehr kann ich mich dafür begeistern, den Gegner durch harte Arbeit zu Fehlern zu zwingen? Diese Aufgabe kann sehr beflügelnd sein, ja sogar Spaß machen.
Was ist für die Deutschen bei der EM drin?
Fritz: Das kann ich nicht prognostizieren. Noch nicht einmal für die Vorrunde. Ich kann mich aber nur wiederholen: Bringen die Deutschen ihre Abwehrqualität aufs Feld, wird ihnen in der Vorrunde keine Mannschaft gefährlich werden.
Auf der Torwartposition setzt der Bundestrainer Alfred Gislason auf den erfahrenen Andreas Wolff und die jungen Till Klimpke und Joel Birlehm. Wie gut sind die beiden Herausforderer?
Fritz: Klar sollte sein, dass wir uns auf dieser Position in den nächsten Jahren keine allzu großen Sorgen machen müssen. Till hat sich unglaublich entwickelt. Der Schritt in die Nationalmannschaft war für ihn nur logisch. Er profitiert bei der HSG Wetzlar wie zuvor schon Andi Wolff von der Zusammenarbeit mit dem dortigen Torwarttrainer Jasmin Camdzic. Es ist überragend, was dort geleistet und wie bei der HSG mit den Torhütern gearbeitet wird.
Und Birlehm?
Fritz: Für Joel ist es wichtig, dass er dabei ist und sich mit den Besten messen kann.
Sie kennen ihn aus den Junioren- und Jugendnationalmannschaften. Er scheint sehr ehrgeizig zu sein?
Fritz (lacht): Das wird ein wenig die Herausforderung für ihn sein, bei bestimmten Dingen nicht zu überdrehen, sondern einfach geduldig und diszipliniert zu arbeiten. Ehrgeiz ist wichtig, das steht außer Frage. Aber bei all dem Druck geht es eben auch um Lockerheit. Aus eigener Erfahrung weiß ich und einige Kollegen sehen das auch so: Wenn beide Komponenten zu einem gesunden Mix verschmelzen, ist das nicht das Schlechteste.
Wie sehen Sie die Hierarchie im Tor?
Fritz: Die jetzige Konstellation im Tor ist sehr gut. Andi Wolff ist die Nummer eins und dieser Status wir ihm mit Sicherheit helfen. Seine Leistungen in den Testspielen bestätigen das. Ich glaube, dass Andi als Typ auch das Wissen für sich braucht, die klare Nummer eins zu sein. Zuvor war seine Situation nicht so einfach und seine Position mit den Kollegen Silvio Heinevetter und Johannes Bitter nicht so klar, zumal die zwei ebenfalls erfahren und starke Persönlichkeiten sind.
Kurz vor der EM hat der Deutsche Handballbund (DHB) den Vertrag mit Bundestrainer Alfred Gislason bis 2024 verlängert. Halten Sie das für eine gute Entscheidung?
Fritz: Ich gehe davon aus, dass sich die Verantwortlichen vom DHB viele Gedanken gemacht haben, um die richtige Entscheidung zu treffen. Wir müssen nicht über die grundsätzliche Qualifikation von Alfred reden. Ich will das ganz klar sagen: Alfred ist ein renommierter und erfolgreicher Trainer, ein ausgewiesener Fachmann. Ich habe selbst mit ihm zusammengearbeitet und kann ihn auch nur in den höchsten Tönen loben. Ich frage mich aber: Wenn man sich für einen Umbruch in der Mannschaft und viele junge Spieler entscheidet, ist Alfred Gislason dann auch eine zukunftsorientierte Lösung? Vielleicht hätte es auch einen jüngeren Trainer mit einem gewissen Renommee gegeben, der diesen Aufbruch noch mehr verkörpert.
Zum Beispiel Florian Kehrmann?
Fritz: Ich hätte mir zumindest auch Florian Kehrmann gut als Bundestrainer vorstellen können. Er genießt eine große Anerkennung bei den Medien und in der Fachwelt, bringt das Selbstbewusstsein für diesen Posten mit und kann Menschen begeistern, was gerade als Nationaltrainer notwendig ist. Und natürlich ist er ein sehr guter Trainer. Die Entwicklung des TBV Lemgo Lippe spricht für sich. Der Pokalsieg war keine Eintagsfliege.
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