Nur drei – oder doch sieben EM-Spiele? Schon gegen Frankreich werden die Weichen gestellt, wie weit die letzte DFB-Mission von Joachim Löw reichen kann.
Auf der Fahrt nach München kam die „große Anspannung“ hoch bei Joachim Löw vor seiner letzten großen Mission. Plötzlich geht alles ganz schnell – und schon in neun Tagen kann alles vorbei sein. Das aber wollen der Bundestrainer und seine EM-Kicker unbedingt vermeiden. „Jeder ist sehr hungrig nach Erfolg bei der EM, das stimmt mich zuversichtlich“, sagte ein hochkonzentrierter Löw kurz vor dem Hammerstart in eine ganz spezielle Europameisterschaft am Dienstag (21 Uhr/ZDF) gegen den Topfavoriten Frankreich.
Für Wehmut ist in Löws Gedankenwelt derzeit noch kein Platz. „Ich mache mit keine Gedanken, dass es meine letzten Wochen und Spiele sind. Dazu bin ich zu sehr mit Arbeit beschäftigt, ich bin gewissermaßen im Tunnel“, erklärte der nach der EM scheidende Bundestrainer am Montagabend in der Münchner Arena. „Wir haben lange darauf gewartet, sind bis in die Haarspitzen motiviert. Jeder Spieler ist bereit, dass wir in ein hoffentlich erfolgreiches Turnier starten können“, erklärte Kapitän Manuel Neuer.
In den zweieinhalb Wochen Vorbereitung auf die um ein Jahr verschobene EM machten alle Protagonisten um die prominenten DFB-Rückkehrer Thomas Müller und Mats Hummels deutlich, dass sie Löw einen erfolgreichen Abschied schenken wollen. „Wir haben logischerweise viel Qualität in unserer Mannschaft“, betonte der Bundestrainer nochmals deutlich. Der 61-Jährige machte sich am Tag vor dem Frankreich-Hit gar keine Mühe, seine erste Elf noch zu verschleiern. Die wird wohl so aussehen: Neuer – Ginter, Hummels, Rüdiger – Kimmich, Kroos, Gündogan, Gosens – Havertz, Gnabry, Müller.
Löw war am Montagvormittag mit dem Gefühl in einen der beiden türkisfarbenen Teambusse mit der Aufschrift „Germany“ gestiegen: „Endlich geht es los und wir können eingreifen.“ An Bord waren bei Fahrt von Herzogenaurach nach München aber auch reichlich Zweifel und Fragezeichen. Ist das erst nach Löws Umdenken kurzfristig formierte Team robust, effektiv und abgestimmt genug? Können die Rio-Weltmeister Hummels und Müller über zwei Jahre nach ihrer Verbannung auch gegen einen Topgegner das Team stabilisieren? Vermögen Toni Kroos und Ilkay Gündogan die mächtige Offensivpower der Franzosen schon im Mittelfeld körperlich resolut zu stoppen? Funktioniert die neue Dreier-Abwehrkette auch im großen Stresstest?
Löw geht bei seinem EM-Poker „all in“. Es muss im ersten Versuch klappen. „Frankreich ist absolut auf Top-Niveau“, unterstrich der Chefcoach: „In jeder Beziehung. Nur wenn du es als Team angehst, kannst du eine Mannschaft wie die Franzosen erfolgreich bekämpfen“, mahnte Joshua Kimmich.
Dilemma im Mittelfeld
Löws Dilemma: Zieht er den Münchner wie erwartet auf die rechte Außenbahn, fehlt der 26-Jährige als bester Abräumer in der Zentrale. „So lange wir die Spiele gewinnen, ist mir das komplett egal“, sagte Kimmich. Löw wollte nochmals ein „abschließendes Gespräch“ mit dem so wichtigen Bayern-Star suchen. Einen unerwarteten Joker könnte der Trainer für das Auftakt-Spiel noch bekommen: Der Münchner Leon Goretzka ist nach ausgestandener Muskelverletzung womöglich fit für einen Kurzeinsatz.
Deutschland geht mit drei Titeln sowie einer Bilanz von 28 Siegen und nur zwölf Niederlagen in den bisherigen 49 EM-Spielen als erfolgreichste Nation bei Europameisterschaften in das aktuelle Turnier. Nur Spanien hat ebenfalls dreimal den EM-Thron bestiegen. Löw will sich für sein achtes und letztes Turnier – er zählt den Confed-Cup-Sieg 2017 immer mit – nicht auf ein konkretes Ziel festlegen. „Im Hinterkopf“ sei aber immer, „dass wir ins Finale vordringen können“, verriet er.
Hoffnung auf Heimvorteil
Mehr denn je braucht das noch ungefestigte DFB-Ensemble bei der halben Heim-EM die Unterstützung der Fans. Zwar dürfen wegen der Corona-Pandemie bei den drei Gruppenspielen nur je 14 000 Fans in die Münchner Arena. Doch wie die bisherigen EM-Spiele zeigten: Auch das beflügelt die Gastgeber. „Da passiert etwas, da sind Emotionen da. Das hilft uns natürlich“, sagte Löw.
Natürlich hätten die Nackenschläge der letzten drei Jahre Spuren hinterlassen, hat Hummels festgestellt. Doch die könne man auch positiv nehmen, „indem jeder gewarnt ist“. Der Dortmunder spürt jetzt: „Wir haben eine viel bessere Atmosphäre in der Mannschaft als 2018, viel mehr das Gefühl, dass alle an einem Strang ziehen.“ Und der 32-Jährige sieht sogar die Chance auf den Gruppensieg. „Wenn wir so spielen, wie wir es können, werden wir die Gruppe mit Sicherheit bestehen. Und nicht nur knapp.“
Löw möchte erst nach 201 Länderspielen sein Amt an Nachfolger Hansi Flick übergeben. Das hieße: Nach dem Finale am 11. Juli in London. Dort wurde Deutschland vor 25 Jahren letztmals Europameister. Löw kennt aber auch die Gefahr, dass schon nach seiner 197. Partie Schluss ist. Er steht bei 194.
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