Brexit - EU-Regierungschefs lassen nicht locker, um bis Januar 2021 einen gemeinsamen Austrittsdeal mit Großbritannien zu finden

Brüssel will weiterverhandeln

Von 
Detlef Drewes
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Die EU will notfalls rund um die Uhr den Brexit verhandeln: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (l.) neben Ratspräsident Charles Michel. © dpa

Brüssel. Eigentlich wollten die europäischen Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag harte Vertragsarbeit leisten. Als dieser EU-Gipfel geplant wurde, ging man davon aus, dass der neue Handelsvertrag zwischen der Union und Großbritannien fertig auf dem Tisch liegen würde. Schließlich sind es noch gerade mal zweieinhalb Monate, bis das Vereinigte Königreich am 1. Januar 2021 aus dem Binnenmarkt und der Zollunion ausscheidet – und alle strittigen Fragen sind unbeantwortet.

Mehr noch: Der britische Premier Boris Johnson hatte diesen 15. Oktober zu einem Ultimatum erhoben, an dem er für den Fall ausbleibender Fortschritte die Gespräche beenden wollte. Kurz vor dem Gipfel hatten Johnson, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel noch miteinander telefoniert, was Johnsons Sprecher anschließend mit den Worten kommentierte: „Ein Deal ist wünschenswert, aber der Premier ist enttäuscht, dass in den vergangenen zwei Wochen nicht mehr Fortschritte erreicht wurden.“

London will nun im Lichte der Ergebnisse des EU-Spitzentreffens entscheiden, wie man sich verhalten werde. Spätestens Montag wird eine Antwort von der Insel erwartet. Man darf gespannt sein, denn in Brüssel hielten die 26 Staats- und Regierungschefs (der polnische Premier Mateusz Morawiecki fehlte, weil er sich in Quarantäne begeben musste) ihre Linie vor allem in einem Punkt durch: Die EU, so betonten Diplomaten, werde „den Verhandlungstisch sicher nicht verlassen“. Soll heißen: Wenn Johnson die Gespräche beenden will, muss er das tun und dafür auch geradestehen.

Fortschritt „nicht ausreichend“

Deshalb notierten die Staatenlenker lediglich ihre „Besorgnis“, weil die Fortschritte bei den wichtigsten Fragen „noch nicht ausreichend“ seien. Jetzt müsse man intensiver miteinander reden. So formulierte man am Donnerstagabend für das Schlussdokument des Gipfels. Mehr gab es für den britischen Premierminister nicht. „Es ist leider irgendwie wie immer mit Boris Johnson“, erklärte der Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament, Bernd Lange (SPD), am Donnerstag., „Kurz vor Toresschluss liegen die Karten immer noch nicht auf dem Tisch.“

Aber wie auch der Chef des Auswärtigen Ausschusses der EU-Volksvertretung, David McAllister (CDU), sprach er immerhin von „Fortschritten in den vergangenen Tagen“. Allerdings auch von neuen Streitpunkten wie der Attacke Londons auf den Ausstiegsvertrag und die Garantie eines grenzfreien Miteinanders von Nordirland und Irland. Was den Abgeordneten ebenso wie den Staats- und Regierungschefs nun vorschwebt, ist ein Aufbruch: Ab kommenden Montag solle rund um die Uhr und ohne Unterbrechung an den Wochenenden weiter verhandelt werden. Denn ohne Deal droht am 1. Januar zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union das blanke Chaos.

Zwar hat man in Brüssel inzwischen vorgesorgt und einseitig bereits Übergangsregelungen für über 100 Einzelfragen beschlossen, die bis zu 18 Monate Bestand haben sollen. Es geht beispielsweise um die über 2000 Medikamente, die ihre Zulassung für den EU-Markt in Großbritannien erworben haben. Diese Zertifizierung würde entfallen. Betroffen sind auch die Luftverkehrskontrolle, der Flug-, Schiffs- und Straßenverkehr.

Die Vorstellung, so sagte am Donnerstag ein hochrangiger Regierungsdiplomat, dass „ab dem 1. Januar Lkw mit wichtigen Gütern auf britischer oder europäischer Seite im Stau stecken und die Ladungen vergammeln, obwohl diese Lieferungen gerade in der Coronavirus-Krise dringend gebraucht werden, ist unvorstellbar.“ Das Bild käme einer europäisch-britischen Realität ohne Deal wohl ziemlich nahe.

Die Staats- und Regierungschefs ließen sich jedenfalls am Donnerstag nicht aus der Ruhe bringen – oder sie gaben sich Mühe, diesen Eindruck zu erwecken. Sie stellten sich hinter EU-Chefunterhändler Michel Barnier, stärkten ihm den Rücken und ließen Fragen, ob die Union London nicht auch ein wenig entgegenkommen könne, unbeantwortet. Zeit, so hieß es, habe man noch genug. Wenn ein Handelsvertrag Anfang November ausgearbeitet und von beiden Seiten gebilligt vorliege, reiche das allemal noch, um das Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament durchzuziehen.

Vorbereitung auf harten Bruch

  • Große Mengen von mobilen Klos und andere Sanitäranlagen könnten wegen des Brexits schon bald an den großen Straßen im südlichen Großbritannien stehen. Damit will die britische Regierung vielen Lastwagenfahrern helfen, die im Falle eines harten Bruchs mit der EU nach der Brexit-Übergangsphase Ende des Jahres im Stau stehen könnten.
  • Von Mega-Staus betroffen sein dürfte vor allem der Raum Dover.
  • Nach Angaben von Staatsminister Michael Gove sind auch im Falle eines Handelspakts noch Grenzkontrollen nötig. Er geht davon aus, dass bis zu 50 Prozent der Verkehrsteilnehmer nicht auf die neuen Regeln vorbereitet sein könnten. 

Korrespondent

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