Soziales

"Schatzsuche" unter Wohnungslosen: Ein Abend im Arztmobil

Eisige Temperaturen im Winter können für Menschen ohne festen Wohnsitz lebensgefährlich werden. Deswegen fährt der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert durch die Stadt. Eine Fahrt, die nicht immer leicht ist

Von 
Jana Glose
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Der Mediziner Gerhard Trabert bei einem Obdachlosen in Mainz. © dpa

Mainz. Es ist Mitte Dezember und knackig kalt. Fünf Grad unter null. Die Straßen in Mainz sind leicht mit Schnee bedeckt, langsam bricht die Dunkelheit an. In der Ecke einer Bushaltestelle liegt ein Mann, eingewickelt in eine weiße Bettdecke.

«Wollen Sie heute Nacht in einer Unterkunft schlafen?», fragt Gerhard Trabert. Es ist die Frage, die der Arzt an diesem Abend allen stellt, die er auf seiner Runde trifft. Die Frage nach dem Schlafplatz kann in diesen Tagen eine Frage nach Leben oder Tod sein.

Trotz Kälte auch nachts auf der Straße

«Bei diesen kalten Temperaturen ist es mein oberstes Ziel, die Leute zumindest nachts von der Straße zu bekommen», sagt Trabert. Seit 25 Jahren ist der Sozialmediziner mit seinem Arztmobil mehrmals wöchentlich unterwegs, um armen und wohnungslosen Menschen zu helfen.

Der 66-jähriger Gerhard Trabert in seinem durch Spenden finanzierten Arztmobil. © dpa

Die Verständigung mit dem aus Rumänien stammenden Mann ist schwierig. Doch Trabert weiß Rat. Eine befreundete Zahnärztin übersetzt über das Telefon und erklärt dem Mann, dass es zum Schlafen eine Unterkunft in der Nähe gebe. Später am Abend wird klar: Der Rumäne kann die Nacht in einer Notschlafstätte verbringen.

Trabert schätzt, dass in Mainz zwischen 15 und 20 Personen auch die kalten Nächte auf der Straße verbringen. Seitens der Stadt Mainz gibt es keine verlässlichen Zahlen zu obdachlosen Menschen. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband in Rheinland-Pfalz hat keine Anhaltspunkte, wie viele Menschen im Land auf der Straße leben.

Zu wenig Angebote für obdachlose Frauen

Bei der letzten Erhebung 2020 meldeten Kommunen und freie Träger rund 6000 Wohnungslose. Laut dem Wohnungslosenbericht der Bundesregierung, der erstmals in diesem Jahr erstellt wurde, gibt es deutschlandweit rund 263 000 Wohnungslose, davon leben rund 37 000 auf der Straße oder in Behelfsunterkünften.

Hilfsangebote in der Region

Mannheim 

  • Nachtunterkunft: Bonadiesstraße 2, 68169 Mannheim
  • Tagesunterkunft: U2, 12, 68161 Mannheim 

Ludwigshafen 

  • Caritas Förderzentrum St. Martin: Wredestraße 69 67059 Ludwigshafen       

Heidelberg

In Mainz zählt die Stadt nach eigenen Angaben rund 100 Plätze in Notunterkünften. Aber es gebe zu wenig Angebote für Frauen, Paare und Wohnungslose mit Hund, sagt Trabert.

Ein weiteres Problem: «In einigen Unterkünften werden die Menschen morgens wieder vor die Tür gesetzt», so der 66-Jährige, der im Februar für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Dazu zählt auch die «Housing Area», eine ehemalige Einrichtung der US-Armee in Mainz-Gonsenheim, die Trabert auf seiner Tour als nächstes besucht.

Arztmobil als fahrende Praxis

Hier wartet schon Attika. Trabert bittet den aus der Slowakei stammenden Patienten in sein Arztmobil, das dank Standheizung auch in diesen kalten Tagen schützende Wärme für die Untersuchung bietet. Das Innere des Sprinters gleicht einer kleinen Arztpraxis: Liege, Stuhl und zahlreiche beschriftete Schubladen mit Medikamenten und Patientenakten verteilen sich im Bus.

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Für seinen 52-jährigen Patienten füllt Trabert eine Creme ab. Außerdem händigt er Attika 70 Euro aus. «Er bekommt das Geld, damit er in der Stadt nicht Sitzung machen muss», sagt Trabert über den Herzkranken - sich also nicht zum Betteln hinsetzen muss.

Viele Menschen kommen aus Osteuropa

Das Geld kommt aus Spenden des von ihm gegründeten Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland. Der Verein finanziert auch einen Großteil der medizinischen Behandlungen und Medikamente. «Wenn die Patienten versichert sind, rechne ich über die Kasse ab, aber über die Hälfte ist nicht krankenversichert», sagt Trabert.

«Gerade aus Osteuropa kommen immer mehr Menschen zu uns.» So auch sein nächster Patient, Ungar Zsolt, der Schmerzmittel bekommt. «Vielen Dank Herr Professor», sagt er beim Gehen.

Ein Mann wird in der fahrenden Arztpraxis von Gerhard Trabert behandelt. © dpa

Jede Behandlung und Medikamentenausgabe vermerkt Trabert akribisch in den Patientenakten. So auch bei seinem nächsten Stopp am Heinrich-Egli-Haus, einem Männerwohnheim. Hier misst Trabert den Blutdruck eines Patienten, wiegt einen weiteren Patienten und verteilt auch hier Schmerzmittel und Magentabletten.

Es drohen Erfrierungen und Krankheiten

Im Anschluss fährt er mit seinem Arztmobil zurück in die Mainzer Innenstadt. Hier soll ein Wohnungsloser in der Kälte liegen. Immer wieder bekomme er solche Hinweise aus der Bevölkerung. «Bei diesem Wetter muss man sich um jeden auf der Straße Sorgen machen und im Notfall die 112 rufen», rät der Mediziner.

Im Schatten der Kirche St. Peter trifft Trabert den Gesuchten. Josef kommt aus Bulgarien und hat im Eingang eines Geschäfts sein Lager errichtet. Auf den ersten Blick benötigt er keine medizinische Hilfe, und auch in eine Unterkunft will er nicht.

Für die kalte Nacht übergibt Trabert ihm eine Isomatte, eine dicke Winterjacke und einen großen Rucksack. «Da auf der Straße immer viel geklaut wird, verteilen wir seit einiger Zeit die Rucksäcke. Dann können die Menschen tagsüber die wichtigsten Sachen mit sich tragen.»

Die schlimmste Gefahr in diesen Tagen sei aber eindeutig die Kälte. «Es drohen Erkältungskrankheiten, eine Lungenentzündung oder Erfrierungen an Zehen und Füßen.» Der Arzt ist auch besorgt, dass die Wohnungslosen im Winter versuchen, sich mit Alkohol zu wärmen. «Genau der verschärft die Minderdurchblutung und damit das Risiko von Erfrierungen», erklärt Trabert. Vor eineinhalb Jahren sei eine Frau nachts in Mainz erfroren. Erst dieser Tage wurde ein Obdachloser auf frostiger Straße in Frankfurt tot aufgefunden.

Große Gefahr durch Alkohol

Auch Traberts nächster Patient hat an diesem Abend schon einiges an Alkohol getrunken. Mit einer Rotweinflasche sitzt Manfred umgeben von Dosen und Plastiktüten am Eingang eines Ladens. «Ich brauche Bedenkzeit», antwortet er auf Traberts Frage nach der Unterbringung in einer Notschlafstelle. Heute will Manfred auf der Straße bleiben.

Das Arztmobil unterwegs in Mainz. © dpa

Der Arzt überlässt ihm daher eine neue Isomatte und einen Schlafsack und versichert, morgen wieder nach ihm zu schauen - doch ob der Mann dann von der Straße kommt, bleibt ungewiss.

"Bei der Kälte wartet niemand"

«Ich stoße auch an Grenzen, wenn Menschen keine Hilfe möchten. Aber unser Ziel ist es, kontinuierlich zu zeigen, dass wir einfach für die Menschen da sind», sagt Trabert. «Unsere Arbeit ist keine Fehlersuche, sondern eine Schatzsuche.» Er wolle den Menschen helfen, wieder ein Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Nach mehr als drei Stunden endet Traberts Tour an einer Teestube auf dem Zitadellengelände in Mainz, wo auch der Verein seinen Sitz hat. Hier gehen bereits die Lichter aus. «Ich bin heute ein bisschen später. Bei der Kälte wartet niemand», sagt der 66-Jährige, der aus seiner Sicht auf einen ruhigen Abend zurückblickt. «Es ist positiv, wenn es wenig zu tun gibt. Dann weiß ich, dass viele untergekommen sind.»

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