Soziales

Viernheim macht sich stark gegen Kinderarmut – und damit gegen gesellschaftliche Spaltung

Mit zwar kleinen, aber Solidarität stiftenden Mitteln setzt die Stadt Viernheim zunächst in Kitas gegen die Ausgrenzung der Kleinsten an. Etwa, wenn sich Familien keine Gummistiefel leisten können.

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Martin Schulte
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Erzieherin Lena Hoffmann und Kulturamtsleiter Horst Stephan am Tauschregal in der Kita Entdeckerland. Hoffmann ist dort Beauftragte für Chancengerechtigkeit. © Martin Schulte

Viernheim.Zusammenhalt statt Spaltung!“ Das ist Horst Stephans unverbrüchliches gesellschaftspolitisches Credo. Der Leiter des Viernheimer Amts für Kultur, Bildung und Soziales steuert den noch jungen Prozess „Kinderarmut / Bildungs- und Teilhabe-Chancen“ der Stadt. Er hat dem Sozialausschuss zuletzt den aktuellen Sachstand dieses Prozesses berichtet. Diese Viernheimer Initiative ist aber allemal eine nähere Betrachtung wert.

So begann es: Der Sozialausschuss hatte die Verwaltung beauftragt zu erörtern, was die Stadt tun kann gegen Kinderarmut und mangelnde Teilhabe der jüngsten Mitbürger. Weil das Sozialamt wegen kompletter Auslastung abgewunken hat, griff Stephan zu. „Dieses Thema liegt mir so sehr am Herzen, ich konnte es nicht liegen lassen.“

Ausrüstung für schlechtes Wetter? Selbst das können sich manche Familien nicht leisten. © Rolf Vennenbernd/dpa

Kinderarmut? Ist das wirklich so ein großes Thema in Viernheim? Und ob. „Warum kommt der Junge seit sechs Wochen mit der gleichen Jogginghose?“ Oder „warum trägt das Kind sommers wie winters die gleichen Schuhe. Im Sommer schwitzt es, im Winter friert es.“ Horst Stephan zitiert hier die Erfahrungen von Erzieherinnen und Betreuern der Stadtteilbüros. Ja, es gibt in Viernheim Familien, die sich kein zweites Paar Schuhe für ihren Knirps leisten können. Manchmal rührt die nicht angemessene Bekleidung auch aus Unachtsamkeit der Eltern. Aber in aller Regel ist es Geldmangel, bestätigen Erzieherinnen dieser Redaktion auf Nachfrage. In den Stadtteilbüros hat sich die Zahl der Kinder, die dort regelmäßig zu Mittag essen, seit Beginn des Prozesses verdoppelt.

Tausch-Regale in acht armutssensiblen Kitas

Die Stadt ging auf alle 15 Kitas in Viernheim zu mit der Frage, ob sie sich am Prozess „Kinderarmut / Bildungs- und Teilhabe-Chancen“ beteiligen wollen. Acht haben zugesagt. Deren Erzieherinnen nahmen an einer Fortbildung zur Armutssensibilität teil: Wie erkenne ich Armut? Wie kann ich darüber sprechen, so, dass niemand sich schämen muss. Was gibt es für Möglichkeiten zu helfen?

In diesen acht armutssensiblen Kitas steht nun ein Tausch-Regal. Eltern, die etwas übrig haben, und es sich leisten können, es kostenlos abzugeben, bestücken diese Regale. Eine Regenjacke oder auch eine Daunenjacke hier, ein Paar Sandalen oder Winterschuhe da, Gummistiefel, Fahrradhelme, Pullis, Hosen - eben all das, aus dem der eigene Nachwuchs herausgewachsen ist.

Amtsleiter Stephan schildert die Beobachtungen der Erzieherinnen: Das Paar Winterschuhe war eben noch nicht da. Keiner hat mitbekommen, wer es ins Regal gestellt hat. Dann sind die Schuhe plötzlich weg. Niemand hat gesehen, wer sie genommen hat. „Das zeigt, dass weder die Spender noch die Empfänger gesehen werden wollen“, sagt Stephan. „Aber es ist Solidarität erlebbar geworden. Beim Gebenden wie beim Nehmenden.“ Er baut darauf, dass diese erlebte Solidarität ein Stückchen weiter in die Mitte der Gesellschaft rückt. Motto: Wir sind nicht alleine hier in Viernheim.

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Die Musikschule, sie gehört in Stephans Ressort, bietet musikalische Früherziehung in Kitas an. Ihm wurde berichtet, wie ein kleines Mädchen furchtbar traurig in den Raum geschaut hat, in dem die anderen fröhlich geträllert haben. Seine Eltern konnten sich die Gebühr für das Angebot nicht leisten, es musste draußen bleiben.

Der Kinderschutzbund unterstützt den Prozess sehr

Die Musikschule wollte einem Kind die weitere Teilnahme verweigern, seine Eltern konnten sich das nicht länger leisten. „Ich habe gesagt, das kommt nicht infrage, das Kind bleibt im Musikunterricht.“ Mittlerweile hält die Musikschule pauschal zwei für Teilnehmer kostenlose Plätze bereits, ebenso zwei kostenlose Plätze für die musikalische Früherziehung in Kitas. Unter anderem der Viernheimer Kinderschutz, der den Prozess sehr unterstützt, gibt etwas dazu, um die Kosten zu decken. Im Übrigen hat der Kinderschutzbund den armutssensiblen Kitas pauschal 500 Euro zur Verfügung gestellt für den Prozess. Und der Lions Club hat 10.000 Euro gegeben.

„Stellen Sie sich vor, das Mädchen in der Kita hätte ihre Enttäuschung nicht zum Ausdruck gebracht, sondern diese harte Abfuhr geschluckt.“ Stephan rückt auf dem Stuhl nach vorne und hebt den Zeigefinger: „Da beginnt Spaltung. Und das darf nicht sein.“

Der Prozess stößt in der Stadtgesellschaft zunehmend auf Interesse, die Zahl der Mitstreiter wächst. So hat ein Viernheimer aus dem Kreis „Wir Unternehmer für Viernheim“, als er davon gehört hat, spontan 50 Schuh-Gutscheine à 50 für die armutssensiblen Kita springen lassen. So ein Gutschein habe schon viele Mütter und Väter glücklich gemacht, sie hätten große Dankbarkeit gezeigt, berichten Erzieherinnen. „Wenn es uns gelingt, diesen Prozess zu expandieren, können wir vielleicht irgendwann einmal ganz Viernheim erreichen.“ Horst Stephan ist euphorisch.

Es geht nicht um bloßes Geben und Nehmen

Und er macht noch einmal deutlich, dass es hier nicht um bloßes Geben und Nehmen gehe – sondern um die Botschaft dahinter. Er ist davon überzeugt, dass die, die geben, von dem Gefühl profitieren, Gutes getan zu haben. Das verändere den eigenen Blick auf die Gesellschaft. Und dass die, die nehmen, ihre Haltung zur Gesellschaft verändern – weil sie Gutes erfahren haben. Nochmal: Wir sind ja gar nicht alleine.

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Eine Erzieherin, die stundenweise für den Prozess freigestellt ist, findet immer mal wieder Zettel mit Telefonnummern in ihren Taschen. Telefonnummern von Eltern, die Hilfe brauchen, das aber nicht vor anderen sagen wollen. Die Botschaft: Bitte rufen Sie mich an. Die Leute werden angerufen.

„Der Prozess ist für mich Fluch und Segen“, sagt Stephan. So sei das Kita-Personal schon längst überlastet. Und nun komme noch dieser neue Fokus der Aufmerksamkeit und der Ansprechbarkeit dazu. Andererseits sei das Projekt wichtig. Und die Erzieherinnen zehrten auch von den Erfolgserlebnissen. Natürlich sei vieles besonders schwierig, wegen des Migrationshintergrunds vieler Familien. Aber das seien längst nicht alle Fälle.

Kinder so früh wie möglich in die Gesellschaft holen

Kern des Projekts ist, Kinder, denen Ausgrenzung droht, so früh wie möglich abzuholen. Sie in die Gesellschaft zu holen, bevor ihnen staatliche Erziehungsmaßnahmen drohen. Deshalb haben die Mitwirkenden auch die Grundschulen im Blick. Im November wird die Fortbildung an einer Viernheimer Grundschule beginnen.

Jetzt könnte man meinen, Horst Stephan sei ein traumtänzerischer Gutmensch, der meint, mit ein paar Kinderschuhen die Welt retten zu können. Weit gefehlt. Auf das Thema Zuwanderung angesprochen, sagt er: „Wir schaffen es nicht mehr.“ Es brauche Kontrolle und Begrenzung. „Diese beiden schwarzen Blöcke haben die Kommunikation in der Stadt verändert. Sie ist rauer, ungeduldiger, aggressiver geworden.“ Gemeint sind die Container-Monstren an der Friedrich-Ebert-Straße. „Die Menschen sind mit der Zuwanderung längst ideell überfordert. Und wenn friedfertige Kommunikation nicht mehr möglich ist, können wir das Buch zumachen.“

Redaktion Reporter.

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