Mannheim. Herr Dr. Schäfer, die Corona-Zahlen gehen wieder zurück. Ist die „Sommerwelle“ bald vorbei?
Peter Schäfer: Ja, die Welle scheint gebrochen zu sein. In Mannheim sind die Zahlen im Frühsommer etwas später angestiegen als auf Bundes- und Landesebene, nun sinken sie auch etwas später. Besonders wichtig ist, dass die Zahl der Corona-Patienten in den Krankenhäusern jetzt schon die zweite Woche in Folge zurückgegangen ist.
In den amtlichen Statistiken werden nur die mit PCR-Tests bestätigten Infektionen erfasst. Wie hoch ist da wohl die Dunkelziffer?
Schäfer: Bei unserem letzten Interview im Frühsommer hatte ich gesagt, dass die tatsächliche Zahl der Fälle wohl doppelt so hoch ist wie die offizielle. Jetzt schätze ich sie sogar drei Mal so hoch ein.
Das ist aber schon enorm . . .
Schäfer: Stimmt, aber ich halte das auch für ein gutes Zeichen. Immer mehr Menschen gehen nun eigenverantwortlich mit dem Virus um und bleiben auch nach einem positiven Schnelltest einfach daheim. Nach fünf Tagen können sie wieder raus, wenn sie die letzten 48 Stunden ohne Symptome sind.
Laufen diese fünf Tage nicht erst nach einem positiven PCR-Test?
Schäfer: Das gilt schon nach einem positiven Antigen-Schnelltest. Wer eine Krankschreibung braucht, kann sie auch telefonisch vom Hausarzt bekommen.
Was ist mit Quarantäne-Nachweisen vom Gesundheitsamt?
Schäfer: Diese haben praktisch keine Relevanz mehr.
Ist das Angebot an PCR-Tests in Mannheim noch ausreichend?
Schäfer: Ja, das läuft primär über die niedergelassenen Ärzte. Wir als Gesundheitsamt vermitteln bei positiven Antigen-Schnelltests auch nach wie vor PCR-Tests am Klinikum.
Und was ist bei einer roten Kachel auf der Corona-Warnapp?
Schäfer: Die erste Frage ist immer, wie es der betroffenen Person geht. Mit Symptomen sollte man einen Arzt kontaktieren. Ansonsten sind rote Kacheln mittlerweile durch viele Begegnungen ja so häufig, dass es auf den Einzelfall ankommt. Liegt der Kontakt schon länger als fünf Tage zurück, habe ich eine Maske getragen oder handelt es sich um eine Zusammenkunft vieler Menschen im Freien, bei der ich niemandem besonders nahegekommen bin, kann ich das vernachlässigen. Im Zweifel steht mir dann für drei Euro Eigenbeteiligung ein Bürgertest offen.
Früher Oberarzt in der Kinderklinik
- Peter Schäfer wurde am 10. Juni 1965 in Baden-Baden geboren. In Homburg an der Saar studierte er Medizin.
- 1991 kam Schäfer nach Mannheim und arbeitete in der Kinderklinik der Universitätsmedizin, zuletzt als Oberarzt.
- 2001 wechselte Schäfer zur Stadt. Seit 2015 leitet er das Gesundheitsamt, 2019 kam durch eine Fachbereichsreform das Jugendamt hinzu.
- Schäfer lebt in Mannheim-Neckarau, ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
Wie sieht es aktuell mit Clustern in der Stadt aus?
Schäfer: Besonders im Blick haben wir noch die vulnerablen Einrichtungen, also etwa Krankenhäuser und Pflegeheime. Davon sind derzeit acht betroffen, die Gesamtzahl der Infizierten war aber mit insgesamt 18 zuletzt niedrig.
Gab es vor den Ferien Cluster in Schulen oder Kindergärten?
Schäfer: Nein, wobei wir das nicht mehr näher überprüfen. So hat das die Politik entschieden. Der Grund ist, dass es mit Omikron bei Menschen ohne Vorerkrankung in der Regel kaum schwere Verläufe gibt.
Gäbe es Hotspots in Schulen oder Kitas, würde Ihnen das aber über die PCR-Befunde auffallen, oder?
Schäfer: So ist es. Innerhalb unseres Dezernats Bildung, Jugend, Gesundheit haben wir generell einen kurzen Draht zu Schulen und Kitas. Nach allem, was wir hören, war das Infektionsgeschehen dort zuletzt so wie überall.
Jetzt genießen erst mal alle die Ferien. Gehen Sie auch in Urlaub?
Schäfer: Ja, in den nächsten Tagen. Erst besuchen wir unsere älteste Tochter in der Schweiz, danach fahren meine Frau und ich nach Italien.
Sind Sie über die dortigen Corona-Zahlen und -Regeln im Bilde?
Schäfer: Wir kennen beide Länder und sind gut informiert. Generell empfehle ich, sich vorab die Corona-Vorschriften im Urlaubsland anzuschauen, auch wenn es in der EU kaum noch welche gibt.
Was ist mit individuellen Vorsichtsmaßnahmen, etwa Masken?
Schäfer: Ich würde dort FFP2-Masken tragen, wo viele Menschen zusammenkommen, also etwa auf Flughäfen. Und generell in Innenbereichen überall, wo man anderen Menschen sehr nahe kommt, wie in Kassenbereichen in Supermärkten.
Aber ansonsten tragen Sie beim Einkaufen keine Maske mehr?
Schäfer: Ehrlicherweise bin ich nicht mehr so strikt wie noch im Juni. Aber ich finde auch, es sollte jeder für sich selbst eine Risikoeinschätzung treffen – und es respektieren, wenn jemand anderes zu einem anderen Ergebnis kommt.
Was ist, wenn jemand im Urlaub Symptome hat, die auf Corona hindeuten könnten?
Schäfer: Dann sollte man sich verantwortlich verhalten, also engen Kontakt zu anderen meiden. Zudem bietet sich ein Selbsttest an.
Sind die nicht total unzuverlässig?
Schäfer: Wer zwei Tage in Folge bei einem Selbsttest negativ ist, hat eine gewisse Sicherheit.
Rechnen Sie damit, dass wie in den vergangenen beiden Jahren viele Menschen Infektionen aus dem Urlaub mit nach Hause bringen?
Schäfer: Ja, davon gehe ich aus. Das liegt allerdings nicht nur an der höheren Mobilität, sondern auch daran, dass man im Urlaub generell etwas unbeschwerter und somit vielleicht auch leichtsinniger ist. Hinzu kommt, dass es nach der Rückkehr im September bald kühler wird und weniger Aktivitäten im Freien stattfinden. In der Summe wird das Infektionsgeschehen also im Herbst wieder zunehmen.
Was ist mit neuen Virusvarianten?
Schäfer: Ich sehe drei Möglichkeiten: Es bleibt bei einer recht ansteckenden Version mit eher harmlosen Verläufen oder das Virus wird noch ansteckender, bleibt aber eher harmlos. Die schlechteste Variante wäre die dritte: noch ansteckender und schwerere Verläufe. Ich glaube aber, die ersten beiden Szenarien sind viel wahrscheinlicher.
Weshalb?
Schäfer: Es liegt in der Natur des Virus, sich so zu verändern, dass es immer mehr Menschen infizieren kann. Das geht bei harmlosen Verläufen besser, weil Ansteckungen weniger bemerkt werden.
Womit rechnen Sie sonst noch?
Schäfer: Wir müssen aufhören, auf die Sieben-Tage-Inzidenz zu starren. Diese ist wegen der hohen Dunkelziffer ohnehin kaum noch aussagekräftig. Gleichwohl bindet die Erfassung aller positiven PCR-Befunde und die tägliche Übertragung an das Land in den Gesundheitsämtern enorme Ressourcen.
Was macht das ungefähr aus?
Schäfer: Etwa ein Viertel unserer Arbeitsleistung im Corona-Team. Ein Gesundheitsamtsleiter aus einem anderen Bundesland hat das kürzlich als „Beschäftigungstherapie“ bezeichnet. Dem kann ich nur zustimmen.
Ist das die einhellige Meinung der Gesundheitsämter?
Schäfer: Nach meinem Eindruck ja, das Problem ist überall das gleiche. Dabei schaut ja auch niemand von uns auf tägliche Zahlen von Influenza- oder Magen-Darm-Infizierten, trotzdem haben wir als Fachleute im Gesundheitsamt sie im Blick.
Wäre es nicht ein gefährliches Signal, bei stark steigenden Zahlen die tägliche Zählung aufzugeben?
Schäfer: Corona ist jetzt eine Krankheit wie die Grippe, die wir unverändert ernst nehmen müssen, die aber einfach zum Alltag gehört. Außerdem gibt es neben den Zahlen aus Krankenhäusern noch weitere Indikatoren, um das Infektionsgeschehen verlässlich zu erfassen.
Wie Abwasseruntersuchungen?
Schäfer: Genau, aber auch Mittel wie das Grippe-Monitoring des Robert Koch-Instituts, bei dem Bürger gezielt wöchentlich mögliche Beschwerden angeben. Stichproben über Arztpraxen haben sich ebenfalls bewährt, etwa bei Influenza oder Atemwegserkrankungen von Kindern.
Auf was müssen sich die Menschen im Herbst wohl noch einstellen?
Schäfer: Wir sollten auch das Thema Quarantäne angehen, um große Personalnöte zu vermeiden.
Heißt: Infizierte ohne Symptome sollten weiter arbeiten gehen?
Schäfer: Die Ansage muss wie bei anderen Krankheiten lauten: Wer sich nicht gut fühlt, bleibt daheim. Aber es gibt Menschen, die auch am siebten Tag nur nicht wieder arbeiten, weil der Selbsttest noch einen schwachen Balken zeigt. Die sind in der Regel nicht mehr ansteckend.
Newsletter "Guten Morgen Mannheim!" - kostenlos registrieren
Darüber wird ja in der Politik bereits diskutiert. Was halten Sie denn von dem neuen Infektionsschutzgesetz, dass die Regierung für Herbst und Winter vorbereitet?
Schäfer: Mit dem vorgesehenen Instrumentarium kann man durchaus arbeiten. Wichtig finde ich ein einfaches – im Sinne von unkompliziert umzusetzendes – System. Ich befürchte allerdings, dass es wieder zu viele Wenn-dann-Konstellationen gibt, besonders, was den Impf- und den Genesenen-Status angeht.
Etwa, dass die Maskenpflicht für Menschen mit einer Auffrischungsimpfung in den letzten drei Monaten entfallen kann?
Schäfer: Ja. Der Nutzen von FFP2-Masken ist hinreichend belegt. Eine Pflicht, sie zu tragen, sollte für alle gelten. Zu kontrollieren, wer geimpft oder genesen ist, bedeutet riesigen Aufwand für die Verwaltungen. Und es stellen sich wieder Gerechtigkeitsfragen wie die nach jenen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können.
Die Befreiung von der Maskenpflicht soll ein Anreiz für weitere Impfungen sein. Ist der nötig?
Schäfer: Das glaube ich nicht. Voraussichtlich ab 24. September werden wir Omikron angepasste Impfstoffe haben, ab Ende Oktober wohl auch speziell für die derzeit gängigsten Varianten BA.4 und BA.5. Das dürfte die Nachfrage stark erhöhen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach will spezielle Empfehlungen der Ständigen Impfkommission für alle Altersgruppen. Sie auch?
Schäfer: Ob und wann man sich einer Auffrischung unterzieht, ist eine individuelle Entscheidung, die man auch mit ärztlicher Beratung treffen kann. Neben dem Gesundheitszustand kommt es auch darauf an, wo man arbeitet und wie viele Kontakte man zu anderen hat.
Bei vielen über 70-Jährigen liegt die zweite Auffrischung schon mehr als ein halbes Jahr zurück. Wann brauchen die eine dritte?
Schäfer: Das ist eine Frage, für die ich mir unbedingt eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission wünsche. Diese brauchen wir spätestens, wenn die Omikron-angepassten Impfstoffe da sind.
Sind die Impf-Kapazitäten in Mannheim ausreichend, wenn es wieder eine große Nachfrage gibt?
Schäfer: Davon gehe ich aus. In erster Linie sind dann wieder die niedergelassenen Ärzte gefragt. Auch in unserem kommunalen Impfzentrum in Neckarau können wir den Betrieb bei Bedarf ausweiten.
Wie sieht es mit Bürgertests aus?
Schäfer: Anlasslose, kostenfreie Schnelltest für alle halte ich nicht mehr für erforderlich, auch nicht in Schulen und Kitas. Dafür waren die Gesamtaufwände zu hoch. Und bei Omikron scheinen die Schnelltests doch zu unzuverlässig zu sein. Wer krank ist, geht zum Test.
Noch herrscht in einigen Teststellen Chaos. Manchem Anbieter ist nicht klar, dass als Nachweis eine Selbstauskunft ausreicht.
Schäfer: Stimmt, die Umstellung war überhastet. Aber mit der Zeit spielen sich die neuen Regeln ein.
Wird im Herbst auch das Thema Homeoffice wieder groß?
Schäfer: Das könnte durchaus sein. Viele Arbeitgeber haben da ja mittlerweile flexible Modelle entwickelt, wie ihre Beschäftigten von zu Hause aus arbeiten können, so auch wir in der Mannheimer Stadtverwaltung. Mobilität und Flexibilität sind hier für beide Seiten ein großer Gewinn, unabhängig vom Infektionsgeschehen.
Zum Abschluss noch ein Blick in die Glaskugel: Wird es im Winter wieder 2G- oder 3G-Zugangsbeschränkungen geben?
Schäfer: Gefühlt glaube ich das nicht. Das hängt auch mit dem gesellschaftlichen Aspekt zusammen. Lockdowns und Schulschließungen halte ich für nahezu ausgeschlossen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-wie-wird-der-corona-herbst-in-mannheim-gesundheitsamtschef-kritisiert-erfassung-der-fallz-_arid,1983720.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Verzicht auf tägliche Corona-Zahlen: Gute Idee, falsche Zeit