Stuttgart/Mannheim. Für Alena M. war es ein Lebenstraum, eines Tages Polizistin zu sein. Sie will Menschen helfen, sie unterstützen, vielleicht ihnen auch Halt geben. M. ist 21 Jahre jung – und blickt bereits auf fünf Jahre Diensterfahrung zurück. Mit 16 hat sie ihr Abitur abgebrochen, um die Polizeiausbildung zu beginnen. Bereut hat sie das nicht. „Bis zu diesem einen Tag“, erzählt sie am Dienstagnachmittag im Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim dem Vorsitzenden Richter Herbert Anderer. Die Polizeihauptmeisterin gehörte am 31. Mai 2024 zu jenem Einsatzzug, der auf dem Marktplatz die Kundgebung von Pax Europa schützen muss – und der mit erleben muss, wie Rouven Laur, der liebgewonnene Kollege und der Zugführer an diesem Tag, getötet wird. „Der Tag hat alles verändert“, sagt M., während sie Mühe hat, ihre Tränen zurückzuhalten. Der 31. Mai hat ihr Leben verändert.
Der 13. Verhandlungstag im Prozess gegen Sulaiman A. wühlt auf. Vier am Einsatz beteiligte Polizistinnen und Polizisten im Alter von 21 bis 26 Jahren schildern dem Gericht minutiös, was sich aus ihrer Perspektive auf dem Marktplatz ereignet hat – und über das hinausgeht, was Ausschnitte aus dem hinlänglich und auch den Beamten bekannte Video der Tat eben nicht oder nur im Ansatz zeigen.
Am Tisch der Nebenklage verfolgt Petra Laur die Aussagen der Kollegen ihres getöteten Sohns gefasst. Sie hört, wie alle vier ihn würdigen: Als motivierten, engagierten, charismatischen und kompetenten Polizisten, der Enthusiasmus und eine positive Grundstimmung an den Tag gelegt habe und auf Kolleginnen und Kollegen wie auf alle Menschen offen zugegangen sei. Wenn Rouven Laur einen Raum betrat, soll dieser gestrahlt haben, heißt es unter anderem. „Man hat gemerkt, dass er Lust auf das alles hat.“
„Das Messer war lang. Er hat ausgeholt und reingestochen“
Die Polizei ist am 31. Mai mit etwas mehr als 20 Kräften auf dem Marktplatz. Die Beamten erzählen, wie sie vor dem Alten Rathaus parken, den Aufbau des Infostandes beobachten, sich unterhalten, noch etwas essen. Ein letztes Briefing steht an, in dem genaue Aufgaben verteilt werden, ehe der eigentliche Einsatz beginnen soll. Zu diesem Briefing aber kommt es nicht mehr, weil sich die Ereignisse überschlagen. „Als plötzlich Geschrei zu hören war, ist der Zug losgerannt“, erinnert sich Polizeioberkommissar Timo E.
„Wir hatten uns darauf vorbereitet, dass es zu Konflikten kommen kann“, sagt er. Es sei also kein Einsatz gewesen, bei dem sich der Zug „überflüssig“ vorgekommen sei, will Anderer wissen. „Nein“, bestätigt E. Weil die Kundgebung islamkritisch ist, hätten sich einige auf der Fahrt zum Einsatz gefragt, warum sie ausgerechnet am Marktplatz stattfindet, in dessen Umgebung doch so viele Muslime zuhause sind. „Es war klar, dass das Thema konfliktbeladen sein kann“, sagt E. Schließlich sei es bei Kundgebung von Pax Europa öfter emotional zugegangen, wie aus Videos bekannt ist, die einige zur Vorbereitung auf den Einsatz angeschaut haben.
Genauso wie seine Kollegen sagt E., dass sie bei dem Messerangriff zunächst von einer Schlägerei ausgegangen waren, bei der es die Beteiligten zunächst zu trennen gilt. „Wir wussten nicht, ob es einer gegen sechs oder drei gegen drei war. Der erste Impuls war, die Leute zu trennen und zu fixieren“, erklärt E. Er spricht von Chaos auf dem Marktplatz. „Man wusste im ersten Moment nicht, wer gut und wer böse ist“, erzählt Polizeihauptmeisterin Marie H.
Laur fixiert einen der Kämpfenden – und wendet so dem eigentlichen Angreifer Sulaiman A. den Rücken zu. Eine Kollegin habe „Messer“ gerufen, erinnert sich Oberkommissar E. Auch seine Kollegen erzählen von diesem Ruf. „Ich habe das Messer aber erst gesehen, als es im Kopf von Rouven gesteckt ist“, sagt E. Hauptmeisterin Jessica H. ist sich sicher, dass Laur die Attacke nicht hatte sehen können. „Das Messer war lang. Er hat ausgeholt und reingestochen.“ Der Schuss aus einer Polizeiwaffe stoppt Sulaiman A. Ein Wirkungstreffer, wie es am Dienstag heißt.
„Ich wollte warten, bis er wieder aufwacht“
Hauptmeisterin M. ist nur wenige Meter von Laur entfernt. Die 21-Jährige hat eine Sanitätsausbildung und will Laur verbinden. Der schwer Verletzte steht auf. „Ich habe ihm gesagt, er solle sich hinsetzen. Aber er hat nicht reagiert. Er hat nur durch mich hindurchgeschaut“, schildert M. bewegend die Sekunden, die sie bis heute begleiten. Wegen des vielen Bluts habe sie Probleme gehabt, die Wunde zu finden. Zusammen mit einem Kollegen fährt sie mit Laur im Rettungswagen ins Klinikum, begleitet ihn bis vor den Schockraum. „Ich wollte auf dem Flur warten, bis die Operation vorbei ist und er wieder aufwacht.“ Immer wieder bricht M. die Stimme, immer wieder sind ihre Augen gerötet und feucht. An den folgenden Tagen habe es ein „Hin und Her“ an Informationen gegeben, ob ihr 29-jähriger Kollege überlebt oder nicht.
Den Satz ,Heute passiert eh nichts’ habe ich seitdem nie mehr gehört.“
Zwei Tage nach dem Angriff verstirbt Rouven Laur. „Dann kamen die Tränen“, sagt Jessica H. Die 24-Jährige spricht über die Selbstvorwürfe, die sie und Kollegen danach geplagt hätten. Hätte man anders agieren müssen? Anders reagieren? Hätte man das verhindern können, was geschehen ist? Als der Anwalt von Familie Laur, Wolfram Schädler, der Polizistin bescheinigt, dass ihr immer klar sein müsse, „dass Sie das Beste getan und gegeben haben“, bricht auch ihr die Stimme weg.
Der Einsatzzug wird 14 Tage lang aus dem Dienst genommen. Das Präsidium organisiert psychologische Hilfe, es gibt Gruppenevents, die diejenigen ablenken sollen, die das wollen. Sie seien gut betreut worden, sagen die Beamten. „Es hat uns am Anfang den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt E. Und Jessica H. spricht von der „Zeit der schlaflosen Nächte und wiederkehrenden Bilder“.
„Es ist ein Stück Leichtigkeit verloren gegangen“
Alle vier sagen aus, dass das Ereignis sie verändert habe. Sie seien „sehr viel aufmerksamer“ für Bewegungen, sensibler für Situationen. „Wir haben gelernt, dass eine Schlägerei nicht automatisch eine Schlägerei ist“, sagt Jessica H. Bei allen Einsätzen, bei denen Messer im Spiel sind, kämen die Erinnerungen wieder hoch.
Oberkommissar E. erkrankt nach der Tat an einer Grippe. „Ich hatte das Gefühl, dass mein Körper kämpft.“ Wenn er über den 31. Mai spricht, habe er noch immer stärkeres Herzklopfen und spüre eine innere Unruhe. „Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich es verarbeitet habe.“ Eine Kollegin wechselt nach dem Tag die Dienststelle. „Es ist ein Stück Leichtigkeit verloren gegangen. Den Satz ,Heute passiert eh nichts’ habe ich seitdem nie mehr gehört.“
Auch Hauptmeisterin M. leidet bis heute. Sie zweifelt an ihrem Traumberuf. „Ich habe immer gedacht, ich kann Menschen helfen.“ Zwei Monate lang ist sie krankgeschrieben, ehe sie wieder anfängt zu arbeiten – und wieder aussetzen muss. Sie habe überlegt, den Dienst quittieren und Medizinerin zu werden, erzählt M. Dafür aber fehlen die Voraussetzungen – das Abitur hatte sie ja abgebrochen. Sie verbringt Zeit im Ausland, engagiert sich dort sozial, unter anderem in einer Klinik. Bis heute ist M. in Trauma-Behandlung. Anderer hofft, dass sie der Polizei erhalten bleibt. „Wir brauchen empathische und junge Beamte wie Sie“, gibt der Richter ihr abschließend mit auf den Weg.
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