Mannheim. Mal zwingt ein Schiefhals den Kopf in eine abnorme Haltung. Dann wieder schließen sich zwanghaft Augenlider. Manchmal streikt beim Schreiben die Hand. Obendrein können Muskelverkrampfungen den gesamten Körper attackieren. Neurologische Bewegungsstörungen, die als Dystonie („schlechte Spannung“ ) bezeichnet werden, haben mannigfache Ausprägungen. Die vor 25 Jahren gegründete Selbsthilfegruppe blickt bei einem Jubiläumstreffen zurück - aber auch nach vorn.
Die Krankheit führte sie zusammen
Evelyn und Volker Kreiss, die seit 2008 die im Südwesten aktive Gruppe leiten, haben die Veranstaltung im Hotel „Leonardo Royal“ organisiert. Als Bildergeschichte schildern beide, wie die Krankheit sie zusammenführte. Der Kaufmann im Außendienst war 29, als sich ein Ziehen des Halses bemerkbar machte.
Sie haben mir mein altes Leben wieder gegeben!
Als er seinen Kopf nicht mehr mittig stellen konnte, erfolgte die Diagnose zervikale Dystonie. Während der ersten Jahre vermochten Spritzen mit Botulinumtoxin die überaktive Halsmuskulatur ruhig zu stellen - aber dann ließ die Wirkung nach. Kreiss entschloss sich zu einer „Tiefen Hirnstimulation“ , die aber noch nicht bezahlt wurde. Ein Forschungsfonds ermöglichte, dass Neurochirurg Joachim K. Krauss den massiv beeinträchtigten Patienten im Mannheimer Uni-Klinikum operieren konnte. Dass Elektroden gezielt ins Gehirn gepflanzt wurden, und diese von einem implantierten Schrittmacher mit Strom versorgt werden, ist jetzt 20 Jahre her - „die Wirkung ist immer noch sehr gut“, so Kreiss. Nicht von ungefähr begrüßt er seinen einstigen Operateur, inzwischen Neurochirurgie-Chef an der Medizinischen Hochschule Hannover: „Sie haben mir mein altes Leben wieder gegeben!“
Die Jubiläumsveranstaltung ist auch ein Treffen jener Neurologen und Neurochirurgen, die einst am Mannheimer Uniklinikum Pionierarbeit rund um Dystonien geleistet haben. Für Vorträge angereist sind die Professoren und Chefärzte Christian Blahak, Klinikum Lahr-Ettenheim, Thomas M. Kinfe, Universität Erlangen-Nürnberg, und Johannes Wöhrle, Klinikum Koblenz-Montabaur. Ihre Rückblenden offenbaren: Dystonien gab es schon früher. Das Gemälde eines flämischen Malers um 1560 mit dem Titel „der Gähner“ wird inzwischen wegen der zugekniffenen Augen und des aufgerissenen Mundes als Darstellung jenes Syndroms gesehen, bei dem Muskeln für Gesicht, Kiefer und Schlund von unkontrollierten Kontraktionen gekennzeichnet sind. Die bei Orchester-Profis gefürchtete Musiker-Dystonie hat bereits vor Jahrhunderten Träume zerstört. Beispielsweise wollte der junge Robert Schumann als virtuoser Pianist Berühmtheit zu erlangen: Allerdings sollte besessenes Klavierüben eine Fingerstörung auslösen. Und so verlegte sich das Multitalent der Romantik aufs Komponieren.
Wenn der Begriff Botox auftaucht, dann fällt einem Schönheitsmedizin ein - beispielsweise still gelegte Muskeln der Zornesfalte. Justinus Kerner, dichtender Arzt und Erstbeschreiber von „Wurstvergiftungen “ aufgrund des Botulinumtoxins in verdorbenen Fleischprodukten, hätte sich im 19. Jahrhundert wohl nie träumen lassen, welch eine Karriere die Eiweiße aus einer Bakteriengruppe hinlegen würden. Heute gilt das Nervengift bei der nicht-invasiven Behandlung von Dystonien als Standardmittel.
Obwohl sich in den letzten 25 Jahren medizinisch viel getan hat, lassen sich gestörte Signalübertragungen vom Hirn zu Muskulatur bis heute nicht heilen. Obendrein wirft Fragen auf, welche Rolle genetische Faktoren spielen. Auch wenn neurochirurgische Verfahren durch Bildgebung und Robotik an Präzision gewinnen, und Hirnstimulation fast schon als Routine gilt, wie Pionier Krauss betont, bereitet die flächendeckende Versorgung Probleme.
Neurologe Michael Rittmann vom Mannheimer Diako, der die Selbsthilfegruppe von Anfang an betreut, beobachtet, wie das Interesse an dem Spezialgebiet nachlässt - auch weil aufwändige Therapien ungenügend honoriert werden. Rittmann treibt um, wer wohl die über 200 ambulant betreuten Dystonie-Betroffenen nach seinem Ruhestand übernimmt.
Oft schwierige Schicksale
In Gesprächen am Rande blitzen Schicksale auf: Eine Frau erzählt, dass sie bereits mehrere unnötige Rückenoperationen hinter sich hatte, ehe auffiel, dass ihre Beeinträchtigen gar nicht orthopädischen Ursprungs sind. „Ich konnte mit 17 Jahren schon nicht mehr gerade stehen“, blickt eine Betroffene zurück. Es dauerte aber zwölf Jahre, ehe die Diagnose „generalisierte Dystonie“ erfolgte und im Hirn der „motorische Thalamus“ stimuliert wurde. „Seither geht es mir super.“
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