Wenn Pianisten-Finger streiken

Jochen Blum weiß aus eigener Erfahrung, dass man in der Musik manche Griffe ewig üben muss. Als Arzt ist ihm aber auch klar: Die ständig gleichen Bewegungen gehen oft zu Lasten des Körpers. Sein Spezialgebiet: der Musikerkrampf.

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Lernte erst Geigenbau, dann Medizin: Jochen Blum. Das Bild ist vor etwa zehn Jahren entstanden. © Blum

Musikerkrampf: In der Ära von Robert Schumann, dem wohl berühmtesten Komponisten der Romantik, gab es diesen Begriff noch nicht – wohl aber das Phänomen. Und dies sollte die Karriere des Multitalents bestimmen: Eigentlich hatte der junge Schumann nicht Komponist, sondern Pianist werden wollen. Weil er aber wie besessen Klavier übte, ließ dies seinen Traum platzen.

Bis sich die Medizin mit solchen Dysfunktionen der Finger beschäftigte, sollte es noch dauern. Zu den Experten des jungen Fachbereichs Musikphysiologie gehört der Chirurg und Geigenbauer Jochen Blum, der am Wormser Klinikum zum Skalpell greift und an der Frankfurter Musik-Hochschule lehrt. „Sportmedizin ist längst selbstverständlich – nicht aber Musikermedizin“, erklärt der 60-Jährige mit dem ungewöhnlichen Berufsweg.

Verbinder zweier Welten

Nach dem Abitur absolvierte der gebürtige Ludwigshafener zunächst im italienischen Siena eine Ausbildung zum Geigenbauer, außerdem in Florenz ein Violastudium. Als er sich dann doch für die Medizin entschied, war für ihn klar, weiterhin „etwas mit den Händen zu machen“ – und da bot sich die Chirurgie an.

Jochen Blum, der zwei Welten verbindet, weiß um die ergonomischen Tücken von Musikinstrumenten als intensiv genutztem Arbeitswerkzeug. „Die asymmetrisch mit Kinn und Schulter gehaltene Geige kann zu maximaler Verspannung der Halsmuskulatur in Drehform führen“, nennt Blum als häufiges Beispiel. So manchen Profi-Streichern machen aber nicht nur Beschwerden rund um Hals, Nacken, Schulter sowie Wirbelsäule zu schaffen, oftmals schmerzen die Fingerkuppen – weil die dortigen Nervenenden chronisch überreizt sind. „Nahezu alle Musikinstrumente können bei einem Hochleistungspensum gesundheitliche Probleme auslösen“, sagt Blum.

Bei Bläsern seien beispielsweise Störungen der Mundmuskulatur gefürchtet – als deren Folge Töne nicht mehr gehalten werden können oder der schnelle Wechsel in eine andere Tonlage misslingt. Allein bei der Mundstück-Blasaktion sind (zusätzlich zum Körpereinsatz) vielfältige Gesichtsmuskeln beteiligt – jene des Mundringes (Lippen), des Jochbeins, der Wangen und Halshaut.

Musikphysiologie beruht auf der Erkenntnis, dass professionelles Instrumentalspiel zu den anspruchsvollsten menschlichen Fähigkeiten gehört: weil präzise ausgeführte Bewegungsabläufe bei gleichzeitigem Verarbeiten von Sinneseindrücken wie Hören oder Ertasten einander bedingen und gleichzeitig Emotionen eine zentrale Rolle spielen.

„Solch ein hochkomplexes System ist natürlich störanfällig“, kommentiert der Chirurg, der in seiner Zweitprofession als Musikmediziner vor allem einen präventiven Ansatz verfolgt. Das bedeute, ganz bewusst Fehlhaltungen und Überbelastung vorzubeugen. Stundenlang ein- und dieselbe Stückpassage zu trainieren und dabei die gleichen Muskeln zu beanspruchen, gelte es zu vermeiden. „Wir empfehlen strukturiertes Üben in Einheiten – außerdem kreative Pausen.“ Blum weiß aber auch, dass Profimusiker unter „enormem Erfolgsdruck“ stehen, dass berufsbedingte Beschwerden nach wie vor ein Tabu darstellen können. In seiner Musiker-Sprechstunde stellt Blum immer wieder fest, dass Schmerzen hingenommen statt als Warnsystem ernstgenommen werden. „Viele kommen erst, wenn die Sehnenscheidenentzündung schon chronisch ist.“

Der australische Schauspieler Frederick Matthias Alexander gehört zu den Wegbereitern der Musikphysiologie. Er hatte vor mehr als 100 Jahren damit begonnen, Vorgänge beim Sprechen akribisch mit Spiegeln zu beobachten – aus leidvoller Erfahrung. Seine vielversprechend gestartete Karriere als Rezitator von Shakespeare-Monologen war bedroht, als seine Stimme bei Bühnenauftritten zunehmend heiser klang oder ganz versagte.

Studien zur Selbsterkenntnis

Bei Selbststudien fiel ihm auf, dass er beim Rezitieren den Kopf in den Nacken zog, Druck auf seinen Kehlkopf ausübte und hörbar Luft einsog. Außerdem entdeckte er Wechselwirkungen zwischen Körperkoordination und Stimme. Aus seinen Erkenntnissen entwickelte er nicht nur für sich eine Körpertherapie mit dem Ziel, ungünstige Gewohnheiten gezielt zu „verlernen“ und durch weniger belastende Abläufe zu ersetzen. „Die Alexander-Technik ist längst ein Klassiker“, sagt Blum.

Ob der junge Robert Schumann dank heutiger Musikermedizin seinen Traum von einer Karriere am Flügel hätte erfüllen können, darüber wird gern spekuliert. Fest steht hingegen, dass der US-Pianist Leon Fleisher wieder beidhändig Konzerte geben konnte – obwohl ihm jahrelang auf den Tasten nur noch eine Hand gehorcht hatte. Der Amerikaner galt bis Mitte der 1960er Jahre als großes Klaviertalent. Doch dann begannen sich während des Spiels der vierte und fünfte Finger seiner rechten Hand nach innen zu krümmen, vor allem, wenn er schnelle Bewegungen, beispielsweise Triller, ausführte. Er versuchte, dagegen anzutrainieren – vergeblich und obendrein mit verschlimmerndem Effekt.

Anders als Schumann bekam Fleisher eine Diagnose. Und die lautete: Musikerkrampf aufgrund einer neurologischen Störung, in der Fachsprache fokale Dystonie genannt. Wenn die Regulation feinmotorischer Abläufe durcheinander gerät, kann es passieren, dass der Mittelfinger aktiviert, aber ebenfalls der Ringfinger in Marsch gesetzt wird. Leon Fleisher hatte Glück: Seine Muskelverkrampfungen konnten mit Botox unter Kontrolle gebracht werden und damit mit jenem Nervengift, das in der Schönheitsmedizin als Gesichtsstraffer dient.

Manchmal Karriere-Aus

Nicht nur Pianisten trifft der tückische Musikerkrampf – auch Bläser, Streicher oder Gitarristen. Nicht selten bedeutet es das Karriere-Aus. Mit dem Phänomen fokale Dystonie – seit August 2017 als Berufskrankheit anerkannt – beschäftigen sich intensiv Forschungsstudien der „Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin“, die Blum 1994 mit gegründet hat.

Noch geben Mechanismen wie auch eine genetische Disposition der folgenschweren Bewegungsstörung Rätsel auf. Aber so viel steht fest: Wenn Finger oder Lippen nicht mehr gehorchen, dann sind daran nicht die jeweiligen Muskeln schuld, sondern Vorgänge im Kopf.

Forscher vermuten, dass beim stundenlangen Üben präzise koordinierter Abläufe der Hand die daran beteiligten Finger in der Hirnregion für Körperwahrnehmung und Bewegungssteuerung das ihnen zugeordnete Areal ausdehnen, und es zu (Signal-) Überlappungen der Nachbarfinger kommt. Das Kuriose: Glieder einer Hand, die beim Klavierspiel verkrampft streiken, erweisen sich abseits der Tasten als funktionstüchtig.

Dass der gefeierte Pianist Lang Lang vor eineinhalb Jahren wegen einer Sehnenscheidenentzündung Konzerte absagte, offenbart, dass berufsbedingte Beschwerden Stars nicht verschonen. Nach drei Monaten völliger Tastenabstinenz erzählte das chinesische Ausnahmetalent: Er habe „einen großen Schmerz“ in der linken Hand verspürt, als er Ravel übte – „andauernd, ohne Pause und Rücksicht auf mich“.

Jochen Blum

Jochen Blum (60) lehrt als Professor für Musikphysiologie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt, außerdem ist er Professor für Unfall- und Handchirurgie sowie Chefarzt am Klinikum Worms.

Der Herausgeber eines Lehrbuchs über medizinische Probleme bei Profis in der Musik gehört zu den Gründungsmitgliedern und einstigen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin.

Blum arbeitet eng mit dem habilitierten Neurologen und Musiker Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik und Theater Hannover, zusammen. Beide sind in der Fachgesellschaft engagiert. wam

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