Mannheim. Für Benjamin Salz ist der Freitag liebgewonnene Routine. Nach dem Sport, Salz ist passionierter Schwimmer, gibt es die Belohnung. Den guten, „wirklich leckeren“ Streuselkuchen, wie er sagt, gibt es in der Otto-Schall-Filiale am Marktplatz immer nur freitags. So auch an diesem Vormittag, an dem das Wetter wenig sommerlich ist.
Es ist jener Freitag, der nicht nur die Stadt, sondern auch das Leben von Benjamin Salz auf den Kopf stellt und der vielen in Mannheim in Erinnerung bleiben wird. Es ist der Vormittag, an dem Sulaiman A. um 11.34 Uhr den Polizisten Rouven Laur niedersticht und dadurch tötet. Es ist der 31. Mai.
Salz ist in Mannheim geboren worden. Das hört man ihm an. Er ist 68 Jahre alt, Rentner, trägt häufig eine flache Mütze. Ihm fehlt ein Zahn. Das Implantat sei erst vor Kurzem rausgefallen, erzählt Salz.
Mit Aktivisten bereits über den späteren Attentäter gesprochen
Kurz vor dem Attentat isst Benjamin Salz seinen Kuchen, während ihm bereits der Stand auffällt, der nur wenige Meter entfernt mitten auf dem Marktplatz aufgebaut wird. Salz ist politisch interessiert, engagiert sich als Jude in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Wahrscheinlich auch deshalb interessiert ihn, was es mit der israelischen Fahne auf sich hat, die an jenem Stand hängt.
„Ich bin aus Neugier an den Stand gelaufen. Eine Israel-Fahne auf dem Marktplatz ist eher selten“, sagt Salz fast 100 Tage nach dem Attentat. Er erzählt, dass er mit einem der Aktivisten von PAX Europa gesprochen habe. Etwa zwei Minuten habe die Unterhaltung gedauert, in der sich Salz über die Initiative informieren will, die ihm unbekannt ist. Währenddessen fällt ihm ein Mann auf, der sich ebenfalls für den Stand zu interessieren scheint: Sulaiman A.
Der am 31. Mai 25 Jahre alte Mann ist 2015 aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet, wo sein Asylantrag abgelehnt wird. Trotzdem hält sich A. legal in Deutschland auf. Der Afghane ist verheirateter Familienvater, hat eine Duldung, lebt in Heppenheim. Am Freitag ist er mit dem Zug nach Mannheim gekommen, wo PAX Europa einen Infostand angemeldet hat, bei dem auch Michael Stürzenberger sprechen soll. Der ist das bekannteste Gesicht der Gruppe und bereits oft mit provokanten Thesen und Aussagen zum politischen Islam aufgefallen.
Er habe mit dem PAX-Aktivisten auch über jenen Mann gesprochen, der um den Stand geschlichen ist, sagt Salz. Den würde ich mal im Auge behalten, soll er gesagt haben. „Ich habe natürlich nicht an ein Attentat geglaubt. Ich hatte mir gedacht, dass es mit ihm zu emotionalen Diskussionen über Thesen kommen könnte, die auf den Plakaten standen.“
Solche Diskussionen sind bei Veranstaltungen von PAX Europa nicht ungewöhnlich. Immer wieder teilt die Gruppe Mitschnitte von Veranstaltungen, die vor allem Stürzenberger in mitunter hitzigen Diskussionen mit Muslimen über seine provokanten Thesen zeigen.
„Sehr adrett“ sei er gekleidet gewesen, beschreibt Salz Sulaiman A. Ganz ruhig habe er gewirkt. „Er schien null aufgeregt“, erinnert sich Salz. „Eigentlich“, sagt er außerdem über A., „hat er einen ganz guten Eindruck gemacht - aber wegen seines Äußeren, seinem Bart, seinem sehr adretten Kleidungsstil hat er da irgendwie nicht hingepasst“.
Um kurz nach halb zwölf beginnt nur wenige Meter neben Salz das Gerangel. „Ich habe erst gedacht, irgendjemand hat dem Michael Stürzenberger eine gelangt“, sagt er. Dann sei alles ganz schnell gegangen. Schnell - das sind 20, vielleicht 30 Sekunden.
Attentat auf Mannheimer Marktplatz: Ermittlungen gegen Polizisten eingestellt
Salz erzählt, wie zwei, drei Männer zur Hilfe eilen. Er beschreibt das Gerangel neben ihm auf dem Boden. Nur wenige Meter von ihm entfernt stürzt sich Rouven Laur auf einen Mann. Warum? Es ist wohl eine tragische Verwechslung - mit dramatischen Folgen. Denn nicht dieser Mann ist der Angreifer, sondern A., der sich aus dem Gerangel befreien kann - und Rouven Laur „direkt vor meinen Augen“ von hinten in den Hals sticht, wie Salz erzählt. Ein Kollege Laurs beendet das Attentat mit einem Schuss auf A. Der Schütze habe alles richtig gemacht - vielleicht aber eine Zehntelsekunde zu spät geschossen, sagt Salz. Man dürfe ihm keinen Vorwurf machen. „Es war eine Verkettung ganz dramatischer Umstände. Für Rouven Laur ist alles falsch gelaufen, was hätte falsch laufen können.“
Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen am Einsatz beteiligte Polizisten inzwischen eingestellt. Unbeteiligte, die laut Behörde gar nicht vor Ort waren, hatten sie auf Grundlage von Videos und Berichterstattung angezeigt.
Heute kann Salz ohne Probleme über die Sekunden vom 31. Mai sprechen, versichert er. Damals, vor 100 Tagen, habe sich aber auch sein Leben verändert. Wie ein adrenalingeladener „Zombie“, sagt Salz, sei er rund um den Marktplatz gelaufen. Überall in ihm habe es gepocht. „Ich war erst überhaupt nicht ansprechbar.“ Später, auf dem Heimweg, habe er ihm fremde Menschen angesprochen. Nicht bewusst. Unterbewusst. Aus reiner Notwehr, sagt er.
Zwei Monate lang Schwierigkeiten im Alltag
Die Bilder des blutüberströmten Stürzenberger, der Schuss auf den Attentäter - und natürlich der Stich in Rouven Laurs Hals, dessen Vorname an Ruben, den Erstgeborenen Israels, erinnere. „Natürlich verfolgen einen diese Bilder immer wieder“, sagt Salz. „Ich habe noch nie so etwas Barbarisches erlebt.“
Das Gesehene macht ihm damals zu schaffen. Salz fällt in eine Depression. Er zieht sich zurück. Hat Mühe, morgens aufzustehen, und Mühe, andere Routinen zu erledigen. Tage später erst habe er realisiert, in welcher Gefahr auch er sich am 31. Mai um 11.34 Uhr befunden hatte. „Der Alltag war ein riesiger Berg.“ Zwei Monate muss Salz diesen Berg besteigen. Und auch wenn er keine professionelle Hilfe in Anspruch nimmt, sagt er, er sei traumatisiert.
Heute sei er fast wieder der Alte. Den Berg hat er bestiegen, Salz kann seinen Alltag wieder bewältigen. Bald geht er wegen des Zahns zur Krankenkasse, sagt er. Die Bilder holen ihn aber noch ein, „ploppen“ immer wieder in verschiedenen Situationen wie beim Schwimmen auf, sagt Salz.
Den Marktplatz hat er nach dem 31. Mai nie gemieden. Dafür sei der Platz zu schön. Außerdem liegt die Synagoge in unmittelbarer Nähe. Dennoch ist irgendetwas anders. Als Jude sei er in diesen Tagen ja sowieso vorsichtiger, sagt Salz. „Aber auch als ,normaler’ Bürger hat sich festgesetzt, dass man stärker darüber nachdenkt, wo man hingeht“, fügt er an. Nicht erst seit jenem Freitag. Diese Entwicklung beobachte Salz bei sich und in seinem Freundeskreis schon seit vielen Jahren. „Der 31. Mai war aber ein zusätzlicher Schock, der die Normalität und die empfundene Sicherheit noch mal verschlechtert hat.“
Auch in diesen Tagen und an diesem Wochenende wird Salz wieder die Bilder vom Attentat am 31. Mai im Kopf haben. So wird es wohl vielen in Mannheim gehen. „Rouven Laurs Schicksal macht einen unfassbar betroffen“, sagt Salz.
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