Mannheim. Um den legendären Mops-Spruch von Loriot abzuwandeln: Ein Gemeinderat ohne Grüne mag sinnlos sein, aber möglich. Zumindest bis 1978. Denn erst zu diesem Zeitpunkt konstituiert sich die Ökopaxpartei allmählich auch in Mannheim. Die Gemeinderatswahl vom 20. April 1975 ist daher die letzte ohne ihre Beteiligung. Aber auch sonst kommt dem Urnengang vor genau 50 Jahren für die Mannheimer Politik historische Bedeutung zu.
Blicken wir zurück in dieses Jahr, aus heutiger Sicht kein gutes - und damit unserer Zeit nicht unähnlich. Die Wirtschaft liegt danieder. Es gibt Null-Wachstum, bis zu sieben Prozent Inflation, erstmals seit langem mehr als eine Million Arbeitslose.
Das Umfeld: Wirtschaftskrise und Kanzlerrücktritt
Sogar das Wetter ist im Frühjahr schlecht. Und so fragt Rudi Carrell: „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“ Und macht auch gleich den Schuldigen aus: „Mein Milchmann sagt, dies Klima hier, wen wunderts/Denn Schuld daran ist nur die SPD.“ Eine Strophe, die heute nicht mehr gesendet wird, aber für die damalige politische Stimmung charakteristisch ist.
Denn diese bleibt nach wie vor erschüttert von den Ereignissen des Vorjahres. 1974 tritt Willy Brandt zurück, als sein Referent Günter Guillaume als DDR-Spion enttarnt wird. Nachfolger wird Helmut Schmidt, was der SPD in den Städten zunächst wenig hilft. In Stuttgart etwa verliert sie die OB-Wahl, am 1. Januar 1975 tritt dort der CDU-Mann Manfred Rommel das Amt an. Die Mannheimer Genossen sind alarmiert.
Abkehr von der teilweisen Wahl des Gemeinderates
Denn für den 20. April 1975 sind in Baden-Württemberg und damit auch in Mannheim Kommunalwahlen angesetzt. Trotz vereinzelter Einwände, so etwas nicht an einem historisch belasteten Datum zu machen. Denn jeder erwachsene Deutsche jener Zeit kann wie aus der Pistole geschossen sagen, was am 20. April ist: „Führers Geburtstag“.
Schon im Vorhinein, unabhängig vom Ergebnis, ist jedoch klar, dass diese Kommunalwahl eine Zäsur markiert. Denn erstmals wird auch in Mannheim der gesamte Gemeinderat gewählt und nicht mehr nur, wie seit Kriegsende üblich, rotierend alle drei Jahre jeweils die Hälfte.
Raues kommunalpolitisches Klima zwischen SPD und CDU
Und wie ist die Lage vor Ort? Im Gemeinderat verfügt die SPD vor der Wahl 1975 über 24 der 48 Sitze. Politisch besitzt sie sogar eine absolute Mehrheit von 25 Stimmen dank des Oberbürgermeisters Ludwig Ratzel. Der Sozialdemokrat gewinnt 1972 bereits im ersten Wahlgang mit fast 54 Prozent gegen CDU-Fraktionschef Roland Hartung das Rennen um die Nachfolge des parteilosen Hans Reschke. Dieser Wahlkampf ist beinhart, das Klima im Gemeinderat zwischen SPD und CDU in der Folge ganz erheblich belastet. So viel zum Thema „früher war alles besser“.
Vor allem die Neckarufer-Nord-Bebauung und das Collini-Center sind politisch heftig umstritten. Am deftigsten agiert wie so oft die Junge Union, die den OB, den SPD-Fraktionschef und den Architekten auf Plakaten am Bauzaun des Collini-Centers persifliert: „Ratzel, Pahl und Schmucker / Mannheims Steuerschlucker.“
Ungeachtet des Widerstandes beschließen am 28. Januar 1975 SPD, DKP und Oberbürgermeister gegen CDU und ML die Neckarufer-Nord-Bebauung. Ein Bürgerkomitee unter Leitung dreier CDU-Stadtratskandidaten ergreift die Initiative für einen Bürgerentscheid und sammelt bis zum 26. Februar 27.000 Unterschriften, womit das notwendige Quorum mühelos erreicht wird. Am 8. April, knapp zwei Wochen vor der Wahl, erachtet der Gemeinderat mit 43 gegen fünf Stimmen das Bürgerbegehren als zulässig. Allerdings widerspricht OB Ratzel dem Beschluss. Es folgt ein Verwaltungsgerichtsverfahren, das erst 1976 mit einer Entscheidung gegen das Bürgerbegehren endet.
Die Neckarufer-Nord-Bebauung ist nur eines der zahlreichen Projekte, die im Frühjahr 1975 auf dem Weg oder bereits fertiggestellt sind. Andere sind die Bebauung Herzogenried, die Fußgängerzone Planken und Breite Straße, der Rosengarten, die Multihalle und der Fernmeldeturm, der neu gestaltete Luisen- und Herzogenriedpark. Zwei Tage vor der Wahl erfolgt die Eröffnung der Bundesgartenschau durch Bundespräsident Walter Scheel.
Die kommunalpolitische Stimmung in der Stadt ist ebenso angespannt wie die bundespolitische Großwetterlage. Beides führt zu einer sensationell hohen Wahlbeteiligung: Fast 62 Prozent der 220.000 Wahlberechtigten geben ihre Stimme ab, so viele wie noch nie seit 1946.
Wahlverlierer ist die SPD, Gewinner die CDU
„Mannheim in guten Händen“, lautet der Wahlslogan der SPD, doch die Wähler sehen das offenbar anders. Der bundespolitischen Stimmung entsprechend sind die Sozialdemokraten die großen Verlierer. Sie büßen mehr als fünf Punkte ein und kommen „nur“ noch auf 43 Prozent. „Nur“ in Anführungszeichen deshalb, weil sie heute davon träumen.
Doch schon damals verliert die SPD nicht nur die politische absolute Mehrheit, sondern auch den Status als stärkste Fraktion, liegt jetzt nur noch gleichauf mit der CDU. Die kann ihren Aufwärtstrend fortsetzen, 42 Prozent holen und mit 21 Sitzen zur SPD aufschließen. Ein riesiger Erfolg in der roten Hochburg.
Mannheimer Liste sinkt weiter, FDP erholt sich
Die Mannheimer Liste dagegen setzt ihren Niedergang zunächst fort. 1959 holt sie fast 20 Prozent, 1975 sind es nur noch 6,7 Prozent. Unter ihren drei Stadträten ist als Neuling der Lindenhöfer Gert Kordes, der später als ihr OB-Kandidat antreten wird.
Die Liberalen dagegen erholen sich von ihrer Delle von 1971 und verdoppeln sich fast auf rund fünf Prozent. Mit Ingeborg Nikitopoulos und Berndt Rüdiger Paul ziehen zwei Neulinge in den Gemeinderat ein, die den FDP-Kreisverband zwei Jahrzehnte lang prägen werden.
Bei der SPD starten Lothar Mark und Gerhard Widder durch
Zudem beginnen mit der Gemeinderatswahl Politiker ihre Karriere, die damit über die Grenzen Mannheims bekannt werden. Der eine ist Lothar Mark, 29 Jahre jung. Der Studienassessor am damaligen Peter-Petersen-Gymnasium ist Ortsvereinsvorsitzender und Bezirksbeiratssprecher an seinem Wohnort Wallstadt. 1989 wird er Kultur- und Sportbürgermeister, danach 1998 bis 2009 stets direkt gewählter Bundestagsabgeordneter.
Der zweite ist Gerhard Widder, damals 34 Jahre und Lehrer an der Gewerbeschule IV, die später nach Werner von Siemens benannt wird. Seit frühen Jahren bei den Naturfreunden, den Falken und in der SPD, ist auch er Ortsvereinsvorsitzender und Bezirksbeiratssprecher an seinem Wohnort, der Vogelstang. Nach der folgenden Gemeinderatswahl 1980 wird er Fraktionschef der SPD und 1983 Oberbürgermeister.
Doch auch auf Seiten der CDU geht ein Stern auf: Wolfgang Pföhler, 21 Jahre jung, Kreisvorsitzender der Jungen Union und Student der Betriebswirtschaft an der Uni Mannheim. Drei Jahre später wird er Geschäftsführer der CDU-Gemeinderatsfraktion, 1980 Projektmanager bei Bilfinger + Berger und 1981 Sozialbürgermeister.
Es folgen Bundesgartenschau und zwei große Parteitage
Und wie geht es sonst weiter? Das restliche Jahr 1975 wird geprägt von der Bundesgartenschau, der bis heute meistbesuchten in der Geschichte dieses Events. Mannheim macht über die Grenzen der Stadt hinaus positiv von sich reden - Grund dafür, dass im Jahr vor der Bundestagswahl 1976 beide großen Parteien ihre Bundesparteitage im neuen Rosengarten abhalten.
Die SPD versammelt sich hier im November hinter ihrem Kanzler Helmut Schmidt. Zum Parteitag und zur Großkundgebung im Eisstadion kommen legendäre Parteiführer aus ganz Europa: Bruno Kreisky aus Österreich, der dort Kanzler ist, Olof Palme aus Schweden, der 1986 ermordet werden wird, Francois Mitterrand aus Frankreich, dort sechs Jahre später Staatschef.
Die CDU feiert auf ihrem Mannheimer Parteitag im Juni ihren Parteichef, den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl. Bei der Bundestagswahl 1976 unterliegt der Ludwigshafener nur ganz knapp, schafft es aber 1982, Helmut Schmidt zu stürzen. Mannheim 1975 - das ist also irgendwie auch Karrierestart für den Kanzler der Einheit.
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