Mannheim. Nur 56,9 Prozent der wahlberechtigten Mannheimerinnen und Mannheim gaben bei der letzten Landtagswahl ihre Stimme ab. Deutlich wurde auch bei der Bundestagswahl 2021: In Stadtteilen, in denen viele Menschen in sozial prekären Verhältnissen leben, war die Wahlbeteiligung besonders gering (Neckarstadt-West/Schönau). Die schwache Wahlbeteiligung nahmen Daniel Bockmeyer vom Arbeitskreis Demokratie der Grünen und Laura Lenz vom Antidiskrimierungsbüro Mannheim zum Anlass, um unter dem Motto „Wer hat die Wahl?“ zu fragen, wie man mehr Menschen zur Urne bekommt.
Auf dem Podium bei der lebhaften Diskussionsrunde im Bürgerhaus Neckarstadt-West saßen zwei Expertinnen, die Vorsitzende der Gesellschaft für Wahlforschung, Sigrid Roßteutscher, und die Vorsitzende des Migrationsbeirats, Zahra Alibabanezhad. „Die Zahl der Nichtwähler bei Landtags- und Bundestagswahlen wird immer größer, wie setzt sich diese Gruppe zusammen?“ wollte Bockmeyer wissen. Roßteutscher erklärte: „Der typische Nichtwähler ist gering gebildet, politikfern und hat keine Medienkontakte.“ Die Professorin für Soziologie an der Goethe Universität in Frankfurt berichtete: „Dass die Gruppe der Nichtwähler immer größer wird, zeigt sich erst seit den 80er und 90er Jahren.“ Ursachen seien der soziale Wandel, die wachsende Kluft zwischen Bildungsbürgertum und Menschen mit niedriger Bildung, fehlende Verbindung zum Milieu, zu Vereinen oder Parteien, aber auch, dass die Stadtteile immer weniger durchmischt sind und die Abgeordneten keinen Kontakt mehr zu den Nichtwählern haben – sie nicht erreichen. „Die, die am meisten von der Politik profitieren würden, gehen nicht wählen“, bedauerte die gebürtige Mannheimerin.
Laura Lenz wandte dagegen ein, bildungsferne Klassen und Bezieher von Arbeitslosengeld II hätten oft keine Möglichkeit und Zeit zur Bildung. Das führe zu Identitäts- und Solidaritätsverlust. Oft würden diese Menschen auch nicht die Leute kennen, die ihre Anliegen durchsetzen können. Das führe zu einem Gefühl der Machtlosigkeit. „Der Bildungsferne identifiziert sich nicht und wählt auch keine Parteien“, so Lenz.
Zahra Alibabanezhad fügte ergänzend hinzu: „Menschen mit Migrationshintergrund wählen noch mal weniger, das hat auch was mit Rassismus zu tun.“ Betroffen sei der Stadtteil Neckarstadt-West. Migranten, „die von den Politikern nicht angesprochen werden, meinen, sie brauchen nicht zu wählen, sie gehörten ja nicht dazu“.
Auf den Einwand aus dem Publikum, ohne Kontakt zu den Wahlkandidaten fühlten Leute sich nicht vertreten, erwiderte Roßteutscher: „Es ist so einfach, immer auf die Parteien zu hauen.“ Menschen der Arbeiterklasse, bei denen Nichtwahl zur Normalität gehöre, egal, ob Geringverdiener oder hoch bezahlt, die früheren Stadtteile der SPD-Kernklientel seien heute Hochburgen der Nichtwähler.
Mit 14 Jahren wählen gehen?
Auf die Frage, ob Nichtwähler demokratiegefährdend sind, erwiderte Roßteutscher: „Das ist nicht der Punkt.“ Strukturen würden verzerrt. „Leute, die sich abgehängt fühlen, werden nicht wählen gehen. Menschen, die sich an eine Partei gebunden fühlen, gehen wählen“, sagte sie. Nichtwählen habe auch nichts mit Politikverdrossenheit zu tun. „Viele Leute sind politikfern, die wirklich Unzufriedenen gehen wählen“, so Roßteutscher.
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Weiterhin erklärte die Soziologin: „Abiturienten wählen zu 90 Prozent, Hauptschüler hingegen wachsen immer mehr in Elternhäusern auf, die nicht wählen.“ Dass Eltern so prägend sind, könne nur aufgebrochen werden, indem das Wahlalter gesenkt werde. Und zwar nicht auf 16, sondern auf 14 Jahre. „Dann ist ein Erstwähler im Durchschnitt 16 Jahre alt.“
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