Mannheim. Wenn Kinderärzte und Kinderärztinnen Alarm schlagen, dann geht es häufig um überfüllte Klinikbetten während grassierender Infektionen oder um Engpässe bei bestimmten Medikamenten. In Mannheim treibt die Fachgruppe um, dass Mädchen und Buben häufig erst ein Jahr vor der Einschulung einen Kita-Platz bekommen - „viel zu spät und mit negativen Auswirkungen, die wir in unseren Praxen beobachten“, kommentiert Sprecher Daniel Schuhmann.
Zu dem Gespräch mit dem „MM“ haben sich außerdem seine Kolleginnen und Kollegen Bettina Bohn, Monika Deffaa, Steffen Hien, Marcel Sena-Pritsch und Annette Suhr-Wallem (viele Jahre Sprecherin der Fachgruppe) eingefunden: Sie alle haben mit Eltern zu tun, die über lange Wartelisten bei Tageseinrichtungen für Drei- bis Sechsjährige klagen.
Auch wenn die Stadtteile, in denen ihre Praxen liegen, eine höchst unterschiedliche Bevölkerungsstruktur aufweisen, so fällt an der kindermedizinischen Front generell auf: „Sozial ungeübte“ Sprösslinge nehmen zu. Und oftmals stellt sich heraus, dass so manche Mädchen und Jungen, insbesondere ohne Geschwister, kaum Gelegenheit haben, alltägliches Verhalten in der Gemeinschaft zu üben - weil einerseits ein Kita-Besuch (noch) nicht möglich und obendrein die jeweilige Wohnsituation zu beengt ist, um Gleichaltrige zum Spielen einzuladen.
Was Kinder- und Jugendärzte fordern
In vielen Praxen hängt ein Plakat mit der Botschaft „Bildschirmfrei bis Drei“. Jedenfalls plädiert der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte dafür, dass Knirpse in den ersten drei Lebensjahren ohne Smartphone, Laptop und TV-Mattscheibe aufwachsen. Dass die Realität häufig anders aussieht, offenbart sich in Wartezimmern. „Unsere dort ausgelegten Bilderbücher oder Spielsachen werden kaum noch genutzt. Schon die ganz Kleinen schauen irgendwelche Filmchen“, erzählt ein in der Innenstadt niedergelassener Pädiater. Mit seinen Beobachtungen ist er nicht allein.
Dass sich Knirpse bei digitalen Tastaturen oder TV-Fernbedienungen aufs „Daumenjogging“ verstehen, aber nicht auf einem Bein hüpfen können - davon wissen die versammelten Kinderärzte und Kinderärztinnen ein Lied zu singen.
Sie treibt der Bewegungsmangel vieler ihrer kleinen Schützlinge um. Schließlich müssen motorische Fähigkeiten erlernt werden - erst beim Krabbeln und später beim Laufen, Klettern, Balancieren, Hopsen. Gerade für Sprösslinge, die noch nicht allein zum Spielplatz können, aber zu Hause kaum Möglichkeit haben sich auszutoben, sei eine Kita auch deshalb so immens wichtig, so das Plädoyer, weil dort Tanzen und Turnen zum Betreuungsalltag gehören, außerdem Tollen im Außenspielbereich erlaubt wie erwünscht ist - im Gegensatz zu hellhörigen Wohnungen.
Übrigens erleben alte Hüpfspiele wie „Himmel und Hölle“, die sich schon zu Omas Zeiten auf Gehwegen und in Hinterhöfen großer Beliebtheit erfreuten, aus medizinischer Sicht eine Renaissance: weil sie Koordination und Körpergefühl stärken und im Hirn die Synapsen in Schwung bringen.
Vorwurf an die Politik
Mädchen und Buben, die nach dem dritten Geburtstag in einer Kita aufgenommen werden, haben drei Jahre Zeit, bei kreativem Tun spielerisch den Umgang mit Farbstiften, Malpinsel und Papierscherchen zu üben. Bei Sprösslingen, die erst ab Fünf eine frühpädagogische Förderung genießen, so die Erfahrung der Fachgruppe, zeigen sich häufig bei der Einschulung feinmotorische Defizite - und das hat Folgen für Kinderarztpraxen. Denn dort verlangen Eltern immer öfter eine Überweisung zum Ergotherapeuten.
Und das, obwohl diese Berufsgruppe eigentlich für Menschen, ob jung oder alt, zuständig ist, die krankheitsbedingt, beispielsweise aufgrund einer neurologischen Störung , beim Erlernen von Alltagsfertigkeiten eingeschränkt sind. Die Auswirkungen eines unzureichenden Kita-Angebots, beobachten Mannheimer Kinderärzte und Kinderärztinnen, werde in die Medizin verlagert. „Obwohl die Politik versagt“, wie es ein Pädiater formuliert.
Fachgruppe sendet Botschaft
Im Gespräch bemängeln die Kinderärzte und Kinderärztinnen nicht nur das Fehlen von Kita-Plätzen , sie kritisieren: „Damit wird total intransparent umgegangen“ - vor allem beim Vergabesystem, das für städtische Einrichtungen gelte. Oft beschleiche einen das Gefühl, dass ausgerechnet jene Kinder, die für ihren Spracherwerb und soziales Lernen dringend eine frühpädagogische Förderung bräuchten, diese deshalb viel zu spät erhalten, weil deren Mamas und Papas sich nicht mit Ämtern auskennen und schneller als andere Eltern aufgeben.
Die einhellige Botschaft der Fachgruppe lautet: Jedes Kind sollte die Chance haben, ab seinem dritten Geburtstag eine Kita als sozialen Lernort zu besuchen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Kinder brauchen die Kita als Lernort