Ludwigshafen. In der 1 c herrscht Gewitterstimmung. An den sonnenerhellten Fenstern kleben handtellergroße Bienen und starren auf Tulpen aus Seidenpapier, doch in der Mitte des Raumes donnert es gewaltig. 36 Füße stapfen wütend auf den Boden, trampeln auf dem Linoleum mit alle der Energie, die in Sechsjährigen so steckt. Und dann kommen die Blitze. Ärmchen in bunten Pullovern und grauen Trainingsjacken zucken durch die Luft. Pistolenfinger. Ewig langes Rumsitzen entlädt sich in einem Donnerwetter aus kindlichem Übermut.
Wie beschreibe ich Emotionen, wenn ich die Sprache nicht kann? Elif, so nennen wir das Mädchen hier, auch wenn sie nicht so heißt, weiß genau, wie sich Wut anfühlt. Ihre Klassenlehrerin ermutigt sie zum Beschreiben. Doch die Worte reichen nicht aus, Elif greift auf die einzig verständliche Ausdrucksform zurück, die ihr bleibt: ihren Körper. Sie zappelt und grollt und die Kinder im Stuhlkreis um sie herum nicken. Sie alle können viele Geschichten von Wut erzählen. Ihnen fehlen die Worte.
Donnerstagmorgen, neun Uhr fünfzehn, Gräfenauschule. Vor der Tür tobt ein Bildungskampf. Die 22 Schülerinnen und Schüler der 1 c wissen davon nichts. Oder zumindest nicht viel. Seit einigen Tagen berichten Medien über ihre Schule. Online, auf Papier, im Fernsehen. Grund: Herausragend viele von ihnen werden diese erste Klasse wiederholen müssen. 40 Erstklässlerinnen und Erstklässler an der gesamten Schule. Sechs von ihnen kommen aus der 1c.
Aufholen in elf Stunden
Als erste Stunde stand heute Mathe auf dem Stundenplan. Die Jungs und Mädchen sitzen zu meist an Zweiertischen, die kleinen Stühle weinrot lackiert. Sie alle haben Schultaschen, die unproportional sind zu ihrer Körpergröße. Viele haben Mäppchen passend zu ihren Lieblingstieren. Manche nicht mal einen eigenen Stift. Die Klassenlehrerin kontrolliert schnell die Hausaufgaben. Eine zweite Lehrkraft hilft ihr. Um die in der Pandemie entstandenen Defizite irgendwie wieder aufzuholen, wurden über das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona“ deutschlandweit 200.000 zusätzliche Lehrkräfte vorübergehend eingestellt. Für die 1c bedeutet das: elf Stunden. Elf Stunden, in denen eine zusätzliche Lehrkraft sich für unterstützungsbedürftige Kinder etwas Zeit nimmt. Ihnen an ihr Level angepasste Aufgaben gibt, sie mit ihnen durchgeht. Fallen diese Stunden weg Ende Juni bedeutet das auch: eine zusätzliche Belastung für die Klassenlehrerin. Und einen Rückschritt für die Kinder.
Die Gräfenauschule liegt im Ludwigshafener Stadtteil Hemshof. 500 Meter Luftlinie von der Rheingalerie. Wer sich vom abrissbereiten Rathaus auf den Weg dorthin macht, läuft man an Bretterverschlägen vorbei. An Altbauten und nicht abgeholtem Sperrmüll. Die Schule mit dem Wasserturm und den blühenden Kastanienbäumen gilt als Brennpunktschule. Seit Jahren liegt der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund bei 98 Prozent.
Zählen von eins bis sechs
Die Klassenlehrerin teilt die Kinder der 1c in zwei Gruppen. Aus jeder Gruppe werden zwei bestimmt, die nun Kopfrechnen dürfen. „Was ist zwölf minus zwei?“, „Was sind zehn plus vier?“, aber auch: „Welche Zahl siehst Du hier auf dem Zettel?“. Wenn ein Kind die richtige Antwort nennt, johlen alle, klatschen. Das Lernziel einer ersten Klasse sieht unter anderem vor, dass die Kinder im Zahlenraum von eins bis 20 addieren und subtrahieren können. Für einige der Kinder hier aber nur von eins bis sechs. Um sie kümmert sich die zusätzliche Lehrkraft.
Es ist fast Mai, das Schuljahr ist also zu drei Vierteln vollbracht. Aber viele der Kinder können einfach noch nicht gut zwischen plus und minus unterscheiden. Leichter wird es nicht bei dem Themenkomplex räumliche Wahrnehmung. Einige der Schülerinnen und Schüler können ihre richtigen Gedanken nicht in die richtigen Worte packen. Ein Mädchen mit zwei hoch angesetzten Flechtzöpfen auf dem Kopf meldet sich immer wieder; ihre Gedanken sind schneller, als ihr die passenden Silben auf die Zunge kommen wollen. Die kleinen Menschen müssen direkt mit der Einschulung erlernen, mit vielen Frustrationen umzugehen.
Fremde Kultur, fremde Sprache, fremde Welt
Einige von ihnen, erzählt eine Lehrerin in der Pause, haben vorher noch nie einen Kindergarten von innen gesehen. Manche Kinder hatten keinen Kita-Platz, andere hatten einen, aber waren nur unregelmäßig dort. Wieder andere waren zwei Jahre auf der Flucht. Sind erst seit einem Jahr in Deutschland. Nun sind sie hier, in dieser Schule mit den bunten Fluren. Mit gebastelten Blumen an den Fenstern und selbstgemalten Namensschildern. Aber was macht das mit einem Kind? Das vorher nicht die Konventionen einer Bildungseinrichtung kennengelernt hat? Kindgerechte Regeln. Maßgaben, die im hiesigen Unterricht nun mal gelten. Das nicht in der Lage ist, sich mitteilen zu können - ob es nun Bauchweh hat oder Heimweh? Das bisher nicht gelernt hat, einen Konflikt mit anderen Kindern auszutragen, die außerhalb der Familie stehen. Fremde Kultur, fremde Sprache, fremde Welt.
Ein Stockwerk oben drüber wissen die Lehrerinnen und Lehrer der Grundschule zwar eine Antwort darauf, aber auch keine Lösung. Sechs erste Klassen gibt es an der Gräfenauschule, die Lehrkräfte begleiten sie über zwei Jahre. Sie betreuen Kinder aus 35 Nationen, halten Elterngespräche mit Dolmetschern und machen auch schon mal Hausbesuche.
Es gibt Lösungsansätze
„Vorgeschaltete Deutschkurse wären ein wichtiger Ansatz“, sagt Barbara Mächtle. Die Leiterin der Gräfenauschule hat in diesen Tagen sehr viele Fragen und fast immer ähnliche Antworten. Seit sie die schockierende Kunde über das Nichtversetzen vierzig ihrer Erstklässler publik gemacht hat, steht ihr Telefon nicht mehr still. Sie will, erklärt sie über den Flur von einer Besprechung zur nächsten eilend, den medialen Rummel nutzen. Damit die Politik endlich mehr Druck spürt. Denn wie fast immer würde mehr Geld schon eine Menge bringen. Denn mehr davon würde bedeuten mehr Personal und somit mehr Zeit für die Kinder. „Es müssten ja nicht mal voll ausgebildete Lehrkräfte sein“, erklärt sie. Lehramtsstudierende oder Pensionierte, die im Unterricht unterstützen, wären eine Möglichkeit. Und: Coachings für die Eltern. Denn viele der Mütter und Väter würden zwar gerne unterstützen, wissen aber nicht wie. Kulturen, Traditionen, Ängste und Worte stehen im Weg. Deutschland und sie - die Barriere besteht oft aus mehr als nur der Sprache. Um 12:30 Uhr werden die Erstklässlerinnen über den Schulhof in Richtung Zuhause eilen. Dort sprechen sie dann wieder eine Sprache. Es liegt an der Politik dafür zu sorgen, dass es eine einheitliche sein kann.
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