Schönau

Verfahren nach tödlichen Schüssen auf der Schönau eingestellt - Familie entsetzt

Die Staatsanwaltschaft Mannheim hat das Verfahren nach den tödlichen Schüssen am 23. Dezember auf der Schönau eingestellt - zum Entsetzen der Familie des Getöteten, Ertekin Ö. Auch andere kritisieren die Entscheidung

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Valerie Gerards
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Nach dem tödlichen Polizeieinsatz in der Johann-Schütte-Straße auf der Schönau sicherten Beamte mehrere Spuren. © Christian Gerards

Mannheim. Ein Polizist hatte bei einem Einsatz einen Tag vor Heiligabend im Stadtteil Schönau auf den 49-jährigen Deutsch-Türken Ertekin Ö. geschossen. Der Mann war mit einem Messer bewaffnet minutenlang auf offener Straße umhergelaufen. Nach Rekonstruktion der Staatsanwaltschaft anhand von Videoaufnahmen habe er sich drei Polizisten bis auf fünf Meter genähert, die ihre Dienstwaffe bereits gezückt hatten. Aufforderungen, sein Messer niederzulegen, das eine Klinge von mindestens 15 Zentimetern gehabt habe, folgte er nicht. Stattdessen habe er sich schnell bis auf drei Meter auf die Polizisten zubewegt. Als er zwei Schritte gegangen war, schoss ein Beamter „innerhalb von weniger als zwei Sekunden“ vier Mal. Laut Staatsanwaltschaft traf bereits der erste Schuss tödlich.

Familie von Ertekin Ö. will rechtlich gegen die Einstellung vorgehen

Die Familie des Verstorbenen zeigt sich über die Einstellung des Verfahrens entsetzt. „Sie werden alle rechtlichen Mittel einsetzen, um Gerechtigkeit kämpfen und die Einstellung des Verfahrens nicht akzeptieren“, teilt Emrah Durkal im Namen der Schwester des Verstorbenen mit. Er ist ein Vertrauter der Familie und Sprecher der „Initiative 2. Mai“, die sich nach dem tödlichen Polizeieinsatz am Marktplatz vom 2. Mai 2022 gegründet hatte und Polizeigewalt kritisiert. Die Verfahrenseinstellung sei aus seiner Sicht ein Skandal, die Begründung der Staatsanwaltschaft „lächerlich“. „In Mannheim zeigt sich ganz klar: Polizisten dürfen konsequenzlos töten.“ An diesem Samstag soll um 18 Uhr eine Kundgebung am Ort des Geschehens in der Johann-Schütte-Straße stattfinden, bei der sich die Familie zur Entscheidung der Staatsanwaltschaft äußern will.

Kommentar Verfahren nach Polizeischüssen in Mannheim-Schönau eingestellt: Erwartbare Entscheidung

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„Einsatz war rechtmäßig! Wir haben kein anderes Ergebnis erwartet!“, postete Thomas Mohr, Vorsitzender der Mannheimer Gewerkschaft der Polizei (GdP), in der Nacht zum Mittwoch zur Verfahrenseinstellung im sozialen Netzwerk Facebook. Die GdP habe an der Rechtmäßigkeit des Einsatzes keine Zweifel gehabt und deshalb ihren Kollegen anwaltlich unterstützt.

Stadtrat Fontagnier sieht Problem in Polizeiausbildung

Grünen-Stadtrat Gerhard Fontagnier findet diesen Post von Mohr „ganz und gar unglücklich“. Er kritisiert, „dass die GdP feiert, dass kein Fehlverhalten vorliegt, aber kein Bedauern über den Tod von Ertekin Ö. ausgedrückt wird“. Das hätte laut Fontagnier an erster Stelle stehen müssen. Er könne nicht nachvollziehen, warum vier Schüsse abgegeben wurden. „Ich unterstelle dem Polizisten keine Absicht; es liegt auf der Hand, dass er sich verteidigen musste.“ In Anbetracht der Häufung von tödlichen Polizeieinsätzen in der Stadt sieht Fontagnier das Problem in der Ausbildung der Polizisten. „Als GdP-Vorsitzender sollte Mohr überlegen, wie man es in Zukunft anders machen kann, wenn die Polizei in eine solche Situation kommt.“

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Neben zahlreichen Handyvideos hatten die Ermittler des Landeskriminalamts (LKA) den Tatort auf der Schönau auch per Laser vermessen, damit er digital nachgebildet und per VR-Brille noch mal begangen werden konnte. So sei Ertekin Ö. nach dem ersten Schuss gestürzt, als er sich in einer Entfernung von 2,9 Metern zu den Polizeibeamten befand. Ein Angriff auf den Beschuldigten habe „unmittelbar“ bevorgestanden, argumentiert die Staatsanwaltschaft: „Die Verwirklichung eines Verbrechens des (versuchten) Totschlags zu Lasten des Beschuldigten oder der weiteren zwei Polizeibeamten war zu befürchten.“ Deswegen sei der Einsatz das erforderliche und geeignete Mittel gewesen, den Angriff zu beenden. Ein Wechsel von der Dienstwaffe zum Pfefferspray sei in der Situation nicht mehr möglich gewesen, heißt es in der Begründung weiter.

Schüsse auf der Schönau: Wechsel von der Waffe zu Pfefferspray nicht mehr möglich

Aus Sicht der Linken-Stadträte Nalan Erol – sie war wie Gerhard Fontagnier bei der Beerdigung von Ertekin Ö. – und Dennis Ulas sei es bedauerlich, dass das Verfahren so schnell eingestellt worden sei – vor allem vor dem Hintergrund, dass in Mannheim nicht zum ersten Mal Menschen in Ausnahmezuständen von der Polizei erschossen worden sind. Zuletzt am 23. April in der Schlossuniversität, als ein 31-Jähriger getötet wurde, der sich in einem Hörsaal mit mehreren Menschen weigerte, seine Machete niederzulegen. Erol und Ulas meinen, dass ein einzelner Schuss in Anbetracht der Gefahr nachvollziehbar gewesen wäre, nicht jedoch vier Schüsse. „Das schafft ein Klima der Angst, und es schafft kein Vertrauen in die Polizei, das dringend notwendig wäre“, sagt Ulas.

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Die Tatsache, dass der Polizist vier Schüsse abgegeben hat, ändere nichts an der rechtlichen Bewertung, heißt es dazu von der Staatsanwaltschaft. Die rechtsmedizinische Untersuchung habe ergeben, dass der 49-Jährige an den Folgen der Verletzungen durch den ersten Schuss bereits tödlich verletzt worden sei. „Die Abgabe nur eines Schusses und ein Abwarten, ob dieser bereits die erhoffte Wirkung entfaltet, war außerdem aufgrund des geringen Abstands zwischen dem Verstorbenen und dem Beschuldigten nicht zumutbar, da dann keine Zeit mehr geblieben wäre, weitere Schüsse abzugeben“, so die Staatsanwaltschaft. Todesursache war letztlich ein Herzpumpversagen in Kombination mit Verbluten nach innen – Herz und rechte Lunge waren durchschossen worden.

Auch, dass der Verstorbene nicht oder erheblich vermindert schuldfähig gewesen sein könnte, ändere nichts daran, dass die Schüsse gerechtfertigt waren, so die Staatsanwaltschaft: „Dies war zum einen für den Beschuldigten nicht deutlich erkennbar. Zum anderen wäre dem Beschuldigten ein Ausweichen nicht mehr möglich gewesen.“

Polizeipräsidium Mannheim kommentiert keine Entscheidungen der Staatsanwaltschaften

Eine Stellungnahme zu der Entscheidung von Ulrike Schäfer, Vizepräsidentin des Mannheimer Polizeipräsidiums, hatte der „MM“ angefragt, aber nicht bekommen. „Wir als Polizeipräsidium Mannheim kommentieren grundsätzlich keine Entscheidungen der Staatsanwaltschaften oder Gerichte“, teilt ein Polizeisprecher mit und beruft sich auf die verfassungsmäßige Trennung von Exekutive und Judikative. Die Entscheidung, ob gegen den Polizisten ein Disziplinarverfahren nach dem Landesbeamtengesetz eingeleitet wird, erfolge nach sorgsamer Prüfung. Im vorliegenden Fall liegen hierzu „keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte“ vor, heißt es aus dem Präsidium.

Für die Angehörigen sei die Verfahrenseinstellung ein Schock, sagt Ulas. „Das ist ein fatales Zeichen. Ich hoffe, dass die Polizei ihre Lehren daraus zieht. Sie muss ungedingt in einem besseren Umgang mit Menschen geschult werden.“

Zutiefst schockiert über die Einstellung des Verfahrens gegen den Mannheimer Polizeibeamten ist die Familie von Ertekin Ö., der am 23. Dezember 2023 durch die Schüsse auf der Schönau ums Leben gekommen ist. Auch einige Stadträte können die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehen. Die Behörde begründet, sie habe im Ermittlungsverfahren gegen den Polizisten kein rechtswidriges Verhalten festgestellt. Der Beschuldigte habe beim Einsatz seiner Schusswaffe in Notwehr und damit gerechtfertigt gehandelt.

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