Mannheim. Im Januar hatte die Redaktion über Geflüchtete berichtet, die bei Familie Rihm wohnen – und dort gegen Wohnsitzauflagen verstoßen, nachdem die Asylanträge abgelehnt worden sind. Nun hat die Ausländerbehörde der Stadt auch einen Antrag der eigentlich in Bayern gemeldeten Familie abgelehnt, in Mannheim wohnen zu dürfen. Wie es weitergeht, ist offen. Die Fronten zwischen Behörde und den Geflüchteten, um die sich die Familie von Stadtrat Chris Rihm (Grüne) kümmert, sind verhärtet. Rihm kündigt Klagen an – die Stadt pocht auf den Wegzug der Geflüchteten. Die Lage ist kompliziert. „Ein Fall mit vergleichbar vorsätzlichen Verstößen gegen behördliche Anordnungen ist der Ausländerbehörde nicht bekannt“, teilt die Stadt dieser Redaktion mit. Deshalb der Reihe nach. Auch teilweise bereits bekannte Inhalte werden zum Verständnis nochmal aufgegriffen.
Ruslana Drozd – wieso ist sie der Ausgangspunkt der Geschichte?
Als Russland die Ukraine überfällt, flieht Ruslana Drozd mit ihren beiden Kindern nach Mannheim, wo sie zunächst bei den Rihms unterkommen. Inzwischen leben die drei in einer eigenen Wohnung in Mannheim. Die Mutter ist laut Rihm gesundheitlich stark angeschlagen, ihre Kinder extrem lebhaft, wie der „MM“ im vergangenen Jahr bei einem Besuch auch selbst erlebt hat.
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Welche Rolle spielen Zoriana Iavna und Fayaz Ahmad?
Ruslana Drozds Zwillingsschwester Zoriana Iavna ist 2015 von der Krim aus nach Bayern geflohen. Dort lernt sie Fayaz Ahmad kennen, der aus dem afghanischen Kunduz geflüchtet ist. Beide heiraten nach islamischem Recht. 2020 wird Raihana geboren. Iavna und Ahmad verdienen Geld, haben eine Wohnung. Ahmad spricht sieben Sprachen, arbeitet bis zum abgelehnten Asylantrag als Qualitätsprüfer mit unbefristetem Vertrag. Nachdem die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen haben, darf er nicht abgeschoben werden. Auch Iavna darf nicht in die Ukraine abgeschoben werden. Als sich im Sommer der Zustand von Drozd verschlechtert, ziehen Iavna und Ahmad nach Mannheim, um bei der Kinderbetreuung zu helfen.
Aber das durften sie nicht – wieso?
Weil ihr Asylantrag abgelehnt worden ist, dürfen Ahmad und Iavna ihren Wohnsitz nicht frei wählen. Um nach Mannheim zu ziehen, muss die Ausländerbehörde der Stadt einem Umverteilungsantrag zustimmen. Der soll der gleichmäßigen Lastenverteilung unter den Bundesländern bei der Unterbringung von Geflüchteten Sorge tragen. Iavna und Ahmad stellen den Antrag im Juli – und ziehen ohne Zustimmung um. Arbeiten und Geld verdienen dürfen sie hier ohne Umverteilungsantrag nicht. Am 23. Januar sendet die Zentrale Ausländerbehörde Oberbayern Iavna und Ahmad eine Meldeaufforderung: Bis 27. Januar sollen sie sich im Ankerzentrum München einfinden. Zu dem Zeitpunkt ist die Ablehnung des Antrags durch die Stadt Mannheim Iavna und Ahamd nicht zugestellt. Die lassen den Termin verstreichen und leben bis heute bei den Rihms, wo sie deswegen gegen ihre Wohnsitzauflagen verstoßen. Nun hat die Stadt – nach Monaten – entschieden, den Antrag abzulehnen. Die Entscheidung wurde vergangene Woche zugestellt.
Wie begründet die Ausländerbehörde die Ablehnung?
Die Behörde sieht die Notwendigkeit nicht, weshalb Drozd Hilfe brauche und die durch ihre Angehörigen erfolgen müsse. Das wird unter anderem damit begründet, dass bis auf eine Heilmittelverordnung keine „fachärztlichen Stellungnahmen“, „aussagekräftige ärztliche Atteste“ oder andere Nachweise vorlägen. Zwar gebe es Röntgenaufnahmen aus der Ukraine und Stellungnahmen in ukrainischer Sprache. Aber die „können von uns nicht beurteilt und daher nicht als Nachweis gewertet werden“, heißt es. „Eine amtlich beglaubigte Übersetzung oder entsprechende Gutachten in deutscher Sprache wurden nicht vorgelegt.“
Zudem sei das Jugendamt einem Verdacht auf Kindswohlgefährdung nachgegangen – der habe sich aber nicht bestätigt. So könne keine Hilfsbedürftigkeit festgestellt werden. Selbst wenn die vorläge, würde sich daraus „kein Anspruch auf eine Umverteilung“ ableiten, weil Hilfe durch Jugendamt, Krankenkassen, caritative Einrichtungen, „andere Landsleute“ oder Sozialbetreuungen erfolgen könne. Außerdem habe Chris Rihm im April erklärt, „dass er dabei sei, neben Deutschkursen und Unterstützung bei der Arbeitssuche (…) die Betreuung der Kinder von Frau Drozd zu organisieren“. Es sei daher „nicht ersichtlich“, weshalb die Betreuung „alternativlos“ durch Iavna und Ahmad zu erfolgen habe. Da keine humanitären Gründe und kein Härtefall vorlägen, würden Iavna und Ahmad „aus sonstigen Gründen“ zu Drozd ziehen wollen. Die Behörde erklärt, dass sie Drozd besuchen könnten – auch könne die ihre Verwandte in Bayern besuchen.
Was halten Iavna, Ahmad und die Rihms von der Entscheidung?
Nichts. „Wir können nach wie vor nicht nachvollziehen, warum man mit aller Gewalt versucht, die Umverteilung abzulehnen“, erklärt Stadtrat Rihm. Er sei der Überzeugung, dass man eine andere Ermessensentscheidung hätte treffen können. „Die Vorgehensweise mag formal juristisch in Ordnung sein – allerdings ist die Art und Weise des Umgangs zumindest aus menschlicher Sicht sehr befremdlich.“
Dass die Behörde den Rihms indirekt vorwerfe, sie hätten keine Betreuung für die Kinder organisiert, treffe sie schwer. „Wir weisen das entschieden zurück und empfinden diese Aussage als bodenlose Frechheit, zumal viele Menschen in unserem Umfeld wissen, was wir als Familie im Kontext dieser Familie, aber auch der Ukraine-Hilfe insgesamt geleistet haben“, sagt Chris Rihm.
Wie haben die Rihms Drozd und ihre Kinder erlebt?
Ehefrau Manuela Rihm schildert in einem Schreiben an ihre Anwältin die Zeit, in der Drozd mit den Kindern bei ihnen gewohnt hat. Sie zeichnet ein chaotisches Bild: Von bemaltem Parkettboden ist genauso die Rede wie von zerstörten Pfannen, kaputt gemachtem Spielzeug der Kinder von Familie Rihm, Geschrei und schlechtem, von Drozd zubereitetem Essen (etwa eine Dose Mais zum Mittag oder gebratene, ungenießbare Tiefkühl-Pommes). Wie viele Geflüchtete die für die Ausländerbehörde zuständige Bürgermeisterin Diana Pretzell (Grüne) und andere Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger denn bislang aufgenommen hätten, fragt Chris Rihm – rhetorisch. „Mitreden kann man nur, wenn man sich nicht nur auf juristische Formulierungen zurückzieht, sondern selbst Erfahrungen sammelt.“ Er sagt: „Nach wie vor ist Ruslana auf ihre Zwillingsschwester als Stabilitätsanker angewiesen. Ohne sie wäre die psychische Situation schwer erträglich.“
Sieht das eine Psychiaterin auch so?
Aus einem – nach dem zugestellten Ablehnungsbescheid ausgestellten – psychiatrischen Gutachten geht hervor, dass Drozd an einer „mittelgradig ausgeprägten depressiven Episode“ leide. Beide Kinder zeigten „erhebliche Verhaltensauffälligkeiten“, die sie „regungs- und sprachlos“ hinnehme. Drozd sei „zur Zeit nicht in der Lage, ihren Alltag – auch die Situation der Kinder betreffend ,– zu bewältigen“. Der einzig „tragfähige Kontakt“ bestehe zu Iavna. „Zur Bewältigung der Situation ist die Anwesenheit sowie die Aktivitäten der Zwillingsschwester aus ärztlicher Sicht dringend erforderlich“, heißt es. „Die Schwester stellt die einzige realistische soziale Ressource dar, indem sie eine Stützfunktion in dieser kritischen Lebenssituation für die Schwester übernimmt.“ Nachdem die Stadt vor Weihnachten eine Fristverlängerung zum Nachreichen der Dokumente von 14 Tagen gewährt hatte, lehnte sie anschließend eine Bitte zur Verlängerung bis Mitte Februar ab. Laut Rihm sei es zwischen Weihnachten und Jahresbeginn nicht möglich gewesen, ein fachärztliches Attest nachzureichen.
Wie geht es nun weiter?
Auf Anfrage erklärt die Stadt, die Familie sei verpflichtet, Mannheim zu verlassen. Der Verstoß hiergegen könne als Straftat gelten. „Die unterlassene Meldung bei der zuständigen Behörde hat eine Ausschreibung zur Fahndung durch die zuständige Behörde in Bayern zur Folge“, heißt es weiter. „Aus Sicht der Ausländerbehörde Mannheim gibt es hinsichtlich des Wohnortwechsels nichts weiter zu veranlassen.“
Wie sehen das die Familie Rihm und die Geflüchteten?
Die geben sich nicht geschlagen. „Fayaz, Zoriana und Raihana leben nach wie vor bei uns, werden von uns beherbergt und versorgt“, sagt Chris Rihm. Es liefen Klagen vor dem Verwaltungsgericht München. Weil bereits Ende Januar die Meldeaufforderung aus Oberbayern vorlag, frage er sich, weshalb die Behörde so viel früher von der Ablehnung Kenntnis gehabt haben muss, als es die Geflüchteten selbst hatten. Rihm hält es für schwer vermittelbar, warum die Familie, die bereits gearbeitet hatte, nicht in Mannheim bleiben darf. „Spannend ist, dass wir 2000 Geflüchtete aus verschiedenen Ländern zusätzlich aufnehmen müssen – eine integrierte und arbeitsfähige Familie aber abgelehnt wird.“
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