Gedenkkultur

Stolpersteine in Mannheim: Wichtige Mahnung gegen das Vergessen

In Mannheim sind 19 weitere Stolpersteine für Juden und andere Opfer nationalsozialistischer Verfolgung verlegt worden. An wen sie erinnern und was  Oberbürgermeister Christian Specht dazu sagt

Von 
Peter W. Ragge
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Vor den Stolpersteinen in H 5,7: Oberbürgermeister Specht (r.) und Amos Stein von den Angehörigen. © Thomas Tröster

Mannheim. Sie kamen eigens aus den USA und Israel, wollten diesen Moment unbedingt miterleben und fotografieren: 14 Verwandte der Familie Stein. Sie waren dabei, als vor H 5,7 gleich sieben Stolpersteine verlegt wurden als Erinnerung für Menschen, die von den Nationalsozialisten in Konzentrationslager verschleppt wurden. Einer der sieben war der 300. Stolperstein in Mannheim. Oberbürgermeister Christian Specht machte daher deutlich, wie wichtig ihm diese Art der Erinnerungskultur sei. „Wir müssen alles in unserer Kraft Stehende tun, dass das nie wieder passiert“, mahnte er.

Zunächst holt Veronika Wallis-Violet ein Putztuch heraus, reinigt und poliert. Denn seit 2022 liegt hier vor H 5,7 schon ein Stolperstein. Er erinnert an Ettie Liebe, die 1943 ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht wurde und dort umkam. Als die Angehörigen aber mitbekamen, dass auch an Menschen erinnert wird, die zwar überlebten, aber verhaftet, drangsaliert, schikaniert, um ihr Eigentum und ihre Heimat gebracht und letztlich zur Ausreise gezwungen wurden, regten sie an, auch ihrer anderen Verwandten zu gedenken – was der Arbeitskreis Stolpersteine gerne aufgriff.

Die Mutter kommt im KZ um, die Kinder überleben

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitierte Oberbürgermeister Specht aus dem Talmud, einem der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums. Daher seien die Stolpersteine ein bedeutender Teil der Erinnerungskultur in Mannheim. Ausdrücklich dankte er Rolf Schönbrod vom überwiegend von den Naturfreunden getragenen, etwa ein Dutzend Aktive zählenden Arbeitskreis, der diese kleinen Steine mit großer Bedeutung verlegt.

Stolpersteine

  • Die Stolpersteine gehen auf den Künstler Gunter Demnig zurück, der damit an Opfer des Nationalsozialismus – Juden, Sinti und Roma, Widerstandskämpfer, Zwangssterilisierte und viele mehr – erinnert.
  • Sie gelten als das weltweit größte dezentrale Mahnmal. Bisher sind in 27 europäischen Ländern 100 000 der kleinen Steine mit den auf Messingblech graviertem Namen sowie Lebensdaten und -orten verlegt.
  • Seit 2007 werden Stolpersteine auch in Mannheim verlegt. Initiiert wurde das von einem Arbeitskreis unter Federführung der Naturfreunde, dem aber viele weitere Organisationen und Personen angehören. Das Marchivum unterstützt die Initiative. Die Finanzierung erfolgt über Spenden.
  • Verlegt werden die Steine stets am letzten frei gewählten Wohnsitz oder der Wirkungsstätte der Menschen, die aus religiösen oder politischen Gründen, ethnischer Herkunft, sexueller Neigung, ihrer Behinderung verfolgt wurden.

2006 war die Idee bei einer Mitgliederversammlung der Naturfreunde entstanden. „Und wir sind dankbar, dass wir von Anfang an auf die unkomplizierte Unterstützung der Stadt zählen können“, verwies Schönbrod auf die Hilfe, sei es vom Stadtraumservice oder vom Marchivum. „Und Sie haben weiter meine volle Unterstützung“, bekräftigte Specht, denn die Stadt wolle an dieser Erinnerung an Opfer der Diktatur und Mahnung für nachfolgende Generationen festhalten.

Dafür dankte Amir Buksbaum im Namen der Familie, ehe Amos Stein das Totengebet sprach. Ettie Stein ist, so Marco Brenneisen vom Marchivum, 1914 mit ihrem Mann Leiser Leo von Pforzheim nach Mannheim gekommen. Bis 1928 betreibt sie als Modistin ein kleines Hutgeschäft, bringt zudem die sechs Kinder Jacob Josef, Sabina, Esther, Czarne, Salomon Chaim und Lea Ruth zur Welt. Sie leben in H 5,7 in einem kleinen, ihnen zeitweise gehörenden Haus in der Westlichen Unterstadt. „Das galt damals als Armenviertel“, so Brenneisen. Nach der Machtübernahme sei die Familie zunehmend antijüdischen Repressionen ausgesetzt gewesen. Den drei ältesten Kindern gelingt es, nach Palästina zu fliehen – Jakob (damals 21) schon 1935, Josef (22) und Sabine (13) 1939. Weil alle Familienmitglieder aufgrund der Herkunft der Eltern die rumänische Staatsangehörigkeit haben, entgehen sie der Deportation badischer Juden ins Lager Gurs 1940. Aber am 8. Oktober werden Ettie und Leo Stein verhaftet und ins Mannheimer Gefängnis gebracht. Zwei Wochen später verschleppen die Nationalsozialisten den Vater und den erst 14 Jahre alten Sohn Salomon Chaim in das KZ Buchenwald, Ettie Liebe und die Töchter Ester Czarne (15) und Lea Ruth (13) ins Frauen-KZ Ravensbrück. Die Mutter kommt dort um. Der Vater und die Kinder überleben, werden befreit und wandern nach dem Krieg aus.

Auf dem Weg nach Kanada von deutschem U-Boot versenkt

Insgesamt sind am Dienstag in einer ganztägigen, mit einem Gottesdienst in der Synagoge beendeten Aktion 19 weitere Stolpersteine in Mannheim dazugekommen. Oberbürgermeister Specht hat an alle Schicksale erinnert. Besonders bedrückend: Ruth Hennhöfer, 1943 im Alter von erst elf Jahren in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen und 1944 in der „Kinderfachabteilung“ der Heilanstalt Kalmenhof/Idstein ermordet. Auf dem Luzenberg in der Eisenstraße, wo sie zuletzt wohnte, erinnert nun ein kleines Messing-Quadrat an sie. In der Moselstraße 15 wird Widerstandskämpfer Friedrich Char, 1944 in Brandenburg hingerichtet, gewürdigt. In der Max-Joseph-Straße 2 in der Neckarstadt-Ost soll man im Pflaster künftig über den Namen von Curt Sigmar Gutkind stolpern. Dem jüdischen Romanisten und Übersetzer gelingt zwar 1934 die Flucht nach Frankreich, 1935 nach England. Nach Kriegsbeginn dort als „feindlicher Ausländer“ eingestuft und nach Kanada abgeschoben, wird sein Schiff im Juli 1940 von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt.

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Dagegen gelingt der jüdischen Familie Fritz Heinrich, Paul Siegfried, Anni Therese und Konrad Emil Meyer 1935 die Flucht nach Palästina. In P 7, 22 mahnen nun vier Stolpersteine, dass sie durch die Nationalsozialisten ihre Heimat verloren haben. Die zuletzt in H 2, 19 lebenden jüdischen Schwestern Elise und Helene Karlebach dagegen werden 1940 in das Lager Gurs deportiert, wo sie 1942 bzw. 1940 ums Leben kommen. Der jüdische Magazinarbeiter Pinkus Lewin wird 1938 nach Bentschen/Zbaszyn abgeschoben, wo sich seine Spur verliert. Seine Ehefrau Chana-Ita überlebt de Deportation, Tochter Lea Lina wird in Auschwitz ermordet. Auch von der jüdische Familie Liebhold werden drei Mitglieder umgebracht. Der Sohn Werner Bernhard (später „Bernard“) wird vom Kinderhilfswerk OSE gerettet und versteckt, schließt sich als Jugendlicher der Résistance an und überlebt in Frankreich. An ihrem letzten Wohnort steht nun die Kurt-Schumacher-Brücke, der Stolperstein liegt daher auf dem Parkplatz.

Redaktion Chefreporter

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