Stadtgeschichte

Stolperstein-Verlegung in Mannheim: Verwandte in USA hört mit

Sie sind kleine Mahnmale für große Verbrechen. In Mannheim wurden nun wieder 17 Stolpersteine für NS-Opfer verlegt. Warum ein Termin besonders berührend war.

Von 
Peter W. Ragge
Lesedauer: 
Sogar Verwandte aus den USA sind angereist: Verlegung der Stolpersteine für Familie Lichter in der Lameystrasse 15 mit Erster Bürgermeisterin Diana Pretzell (M.). © Pressefotoagentur Thomas Tröster

Mannheim. Sie hört und sieht alles, ist per Handy-Video aus Clark in New Jersey zugeschaltet, sagt dann hörbar stolz und dankbar „Thank you so much“: Doris Lichter, heute 95 Jahre alt, findet es so „wonderful“, was da in ihrer alten Heimat passiert. Vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in der Lameystraße erinnern nun drei Stolpersteine an ihre von den Nationalsozialisten verfolgte Familie und einer an sie, denn sie ist als kleines Mädchen der Vernichtung nur durch die mit Hilfe amerikanischer Quäker gelungene Flucht in die USA entkommen.

Es sieht erst alles wie Routine aus. Zwei Mitarbeiter vom Stadtraumservice fahren vor, holen mit der Spitzhacke eine Gehwegplatte heraus, lösen per Meißel den Untergrund. Dann werden vier Quader eingesetzt, die je eine glänzende Platte aus Messing tragen. Und während die Arbeiter diese Stolpersteine einzementieren, sie säubern und jemand eine Rose niederlegt, wird klar, dass das hier trotz aller langjährigen Erfahrung bei dieser Art der Erinnerung an NS-Verbrechen keine Routine ist.

Projekt Stolpersteine

  • Die Stolpersteine gehen auf den Künstler Gunter Demnig zurück, der damit an Opfer des Nationalsozialismus – Juden, Sinti und Roma, Widerstandskämpfer, Zwangssterilisierte und viele mehr – erinnert.
  • Sie gelten als das weltweit größte dezentrale Mahnmal. Bisher sind in 27 europäischen Ländern über 100.000 der kleinen Steine mit den auf Messingblech graviertem Namen sowie Lebensdaten und -orten verlegt.
  • Seit 2007 werden Stolpersteine auch in Mannheim verlegt, inzwischen sind es über 300. Initiiert wurde das von einem Arbeitskreis unter Federführung der Naturfreunde, dem aber viele weitere Organisationen und Personen angehören. Das Marchivum unterstützt die Initiative. Die Finanzierung erfolgt über Spenden. Die Patenschaft über einen Stolperstein kostet 120 Euro.
  • Verlegt werden die Steine stets am letzten frei gewählten Wohnsitz oder der Wirkungsstätte der Menschen, die aus religiösen oder politischen Gründen, ethnischer Herkunft, sexueller Neigung, ihrer Behinderung verfolgt wurden.

Selbst Erster Bürgermeisterin Diana Pretzell bricht zwischendurch die Stimme, man merkt ihr die Rührung an. Die vier Stolpersteine erinnern an Samuel, Jahrgang 1889, Rosa geb. Löwenstein, Jahrgang 1894, ihre Kinder Ilse, Jahrgang 1923, und Doris, Jahrgang 1930, Lichter. Samuel wird 1939 verhaftet und am 28. Mai 1942 im KZ Sachsenhausen ermordet. Rosa, gedemütigt und entrechtet, stirbt am 24. September 1937. Ilse gelingt 1938 die Flucht in die USA. Doris wird 1940 in das Lager Gurs deportiert, doch 1941 zusammen mit anderen Kindern gerettet und darf mit einem Schiff in die USA, wo sie heute noch lebt.

Opfer der Gewaltherrschaft bleiben in Mannheim so weiterhin präsent

„Hello Doris“, beginnt Pretzell daher ihre Ansprache und grüßt in das Handy, das der mit seinem Mann John eigens aus den USA angereiste Sohn Scott Kalish hält. Auch einige andere weitere Verwandte sind da, doch besonders wichtig ist allen, dass die betagte Frau in den USA mitbekommt, was nun in der Straße passiert, in der sie aufgewachsen und von den Nazis abgeholt worden war. Denn das Haus ihrer Jugend, das steht heute noch, ein „wonderful building“, wie die Erste Bürgermeisterin sagt. Doch das Land, das sei ein anderes geworden, Demokratie und Freiheit von hoher Bedeutung. Und es sei gut, dass nun alle Leute, die hier vorbeilaufen, erinnert werden an die früheren Bewohner, denen so großes Unrecht geschehen sei. Mit den Stolpersteinen, so die Erste Bürgermeisterin, blieben die Opfer der Gewaltherrschaft weiter präsent und zeige die heutige Gesellschaft, dass sie nicht vergessen seien.

Für die Familie sei das ein sehr wichtiger Moment, so Scott Kalish. Er lässt deshalb seine Mutter über das Handy daran teilhaben. Er ist eigens nach Deutschland geflogen, um an der Verlegung teilzunehmen und an seine Eltern und Großeltern zu erinnern, von denen er Fotos herumzeigt. Sie hätten gerne in Mannheim gelebt, seien hier integriert gewesen – bis Juden plötzlich ausgegrenzt wurden, sie ihre Geschäfte verkauften mussten, ihre Kinder nicht mehr zur Schule gehen durften, der Ausgrenzung schließlich die Verhaftung und Vernichtung folgte. Seine Mutter würde gerne dabei sein, aber die Reise sei inzwischen zu anstrengend. Doch er sei gekommen, um die Erinnerung wachzuhalten – und dankbar, dass sie in Mannheim nun auf diese besondere Weise wachgehalten werden.

Mehr zum Thema

Stadtgeschichte

Keine Beschädigungen: Positive Bilanz der Toscano-Ausstellung in Mannheim

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren
Trauer

„Seid Menschen!“: Blumen am Porträt von Margot Friedländer am Mannheimer Wasserturm

Veröffentlicht
Von
Sebastian Koch
Mehr erfahren
Nationalsozialismus

Von „Ausmerze“ bedroht – Stolpersteine in Mannheim

Veröffentlicht
Von
Waltraud Kirsch-Mayer
Mehr erfahren

„Gerade in der heutigen Zeit muss man sich mit der Vergangenheit befassen“, findet Volker Schanz-Biesgen, der mit seiner Frau Carola die Patenschaft über die Stolpersteine in der Lameystraße übernommen hat. „Großartig, was die machen“, lobt er die Arbeit des von Marco Brenneisen vom Marchivum koordinierten Arbeitskreises Stolpersteine. 17 weitere der kleinen Mahnmale hat er jetzt verlegt. Man wolle so „die Erinnerung an die Menschen wachhalten, die von den Nationalsozialisten verfolgt, gedemütigt, entrechtet, verhaftet, deportiert, ermordet wurden“, Juden ebenso wie Angehörige anderer religiöser Gruppen, Minderheiten, Widerstandskämpfer oder Behinderte, so Rolf Schönbrod von dem Arbeitskreis.

Einige konnten den Machthabern rechtzeitig durch Flucht entkommen, wie die jüdische Familie Josef und Gertrud Hirschler und ihre Tochter Inge Maria, denen ebenso die Flucht nach Argentinien gelang wie Michael und Recha Würzburger mit Ernst und Stefanie. An sie wird in der Heinrich-Lanz-Straße und in O2, dem jeweils letzten selbst gewählten Wohnort, erinnert. Aber es liegen jetzt auch Stolpersteine für Sofia Magdalena Schneider oder Maria Bauss. Ihr Vergehen: Hunger. Weil sie aus ausgebombten Häusern Lebensmittel holen, werden sie als „Volksschädlinge“ hingerichtet.

Redaktion Chefreporter

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke