Serie Ferienjobs

Rektorin der Hochschule Mannheim: "So bin ich zur Feministin geworden"

Astrid Hedtke-Becker, die Rektorin der Hochschule, schließt die "MM"-Serie "Ferienjobs" ab. Um sich ein Instrument zu finanzieren, half der damaligen Schülerin ein Job in einer Reinigung - der sie bis heute prägt

Von 
Sebastian Koch
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Astrid Hedtke-Becker. © Stephan Ditgens

Mannheim. „I’d rather be a sparrow than a snail. Yes, I would, if I could, I surely would“, erklingt es im Jahr 1970 am Lagerfeuer. Zusammen mit ihrem Vater ist Astrid Hedtke-Becker im Urlaub in einer Jugendherberge am Bodensee, als ein Mann am Feuer auf der Querflöte „El condor pasa“ von Simon&Garfunkel spielt. „Ich war völlig fasziniert vom Klang der Flöte“, erinnert sich die heutige Rektorin der Hochschule. „In dem Moment habe ich gewusst, dass ich auch Querflöte spielen lernen will.“

Gesagt, getan: Hedtke-Becker nimmt Unterricht und bekommt sogar eine Traversflöte, eine Flöte ohne Klappen, sondern nur mit Löchern, geschenkt. „Das war sehr mühsam“, sagt sie. „Meine Lehrerin hat deshalb irgendwann gesagt, sie habe eine moderne Querflöte für mich ausgesucht.“ Der Preis: 1000 Mark. Eine Summe, die die Schülerin kaum aufbringen kann. Zwar sei ihr Vater ein „sehr erfolgreicher und stolzer Industriekaufmann“ gewesen, in der Familie mit vier Mädchen aber Alleinverdiener. „Da war nicht viel da, was er hätte zuschießen können.“ Hedtke-Becker muss in den Sommerferien arbeiten. „Ich habe einen Job in einer chemischen Reinigung gefunden, die mich für damalige Verhältnisse sehr gut bezahlt hat.“

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Wie viele Wochen sie in der Reinigung gearbeitet hat, das weiß Hedtke-Becker heute nicht mehr. Die Zeit aber prägt die damals 14-Jährige - nicht allein wegen der Arbeit an sich. Hedtke-Becker muss Jacketts mit Dampfstößen bügeln - aber „nicht mit zu viel Dampf, das Jackett darf ja nicht nass werden“ - oder Röcke faltenfrei machen. „Die waren einfach, das konnte ich superschnell.“

So warm der Sommer 1971 draußen war, so heiß sei es wegen des Dampfs auch in der Reinigung gewesen. „Die Arbeit war unglaublich hart, und ich habe in dieser Zeit mit meinen 14 Jahren sehr viel Respekt vor der Arbeitswelt bekommen.“ Hedtke-Becker habe gelernt, „jeden Tag zur Arbeit zu gehen, ob ich Lust hatte oder keine, und meine Arbeit so zu machen, dass das Ergebnis richtig gut wird“. Sie habe „Ehrgeiz“ entwickelt. Zum einen fasziniert sie die „Schnelligkeit“ und „Perfektion“ ihrer Kolleginnen, zum anderen hat sie ihr Ziel vor Augen: Geld für die Flöte. Dann lacht sie im Gespräch im Rektorenzimmer: „Nach einer Woche war ich fix und fertig.“

Als der Ferienjob endet, hat Hedtke-Becker vergleichsweise viel verdient: 500 Mark. „Die große Summe, die ich in ein paar Wochen erarbeitet habe, hat mich sehr motiviert.“ Für die Flöte aber reicht es nicht: Es fehlten noch 500 Mark. Hedtke-Becker, die „eine gute Schülerin in allen Fächern“ gewesen sei, gibt Nachhilfe. „Das war teilweise mühsam“, sagt sie heute. Nach eineinhalb Jahren habe sie die 1000 Mark schließlich zusammengehabt. „Das Gefühl, mein Ziel endlich erreicht zu haben, kann ich heute noch nachempfinden“, sagt sie, und man meint, in dem Moment die Euphorie von damals noch in ihren Augen zu sehen.

Hedtke-Becker, das merkt man ihr immer wieder an, erzählt gerne über die Zeit als Ferienjobberin. „Mir haben schon damals die Frauen imponiert, die berufstätig gewesen sind.“ Die meisten hätten glücklich und interessant gewirkt. Später, als junge Erwachsene, will sie aber studieren. Ein Studium sei für sie als Frau aber noch zu früh, habe ihr Vater gesagt. „Frauen sollten, bevor sie studieren, einen Beruf erlernen“, erinnert sie sich an seine Worte. Hedtke-Becker erlernt zunächst den Beruf des Industriekaufmanns - „heute gibt es auch den Abschluss Industriekauffrau, ich bin aber noch ein Industriekaufmann mit einem Kaufmannsgehilfenbrief“, sagt sie. „Ich habe erlebt, wie hart Männer in der Stahlindustrie ohne den heute geltenden Arbeitsschutz gearbeitet haben und welche körperlichen Gebrechen das zur Folge hatte.“

Unzufrieden nach der Lehre

Als Hedtke-Becker die Lehre abschließt, wird sie übernommen: In einer völlig anderen Abteilung. In „einem kalten Vorraum“ habe sie an der Schreibmaschine arbeiten müssen, was nicht zur Ausbildung gehörte. Ihre männlichen Mit-Azubis seien dagegen im Verkauf gelandet und hätten doppelt oder dreifach so viel verdient. „Als junge Frau habe ich das als eine wahnsinnige Benachteiligung empfunden, weil ich immer gedacht hatte: ,Wenn du Leistung bringst und deine Sachen gut machst, steht dir die Welt offen’“, erinnert sie sich. „So bin ich zur Feministin geworden.“ Hedtke-Becker setzt auf ihre Lehre doch noch ein Studium drauf, macht als Erziehungswissenschaftlerin Karriere - und wird schließlich, 2019, Rektorin der Hochschule Mannheim.

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Was rät sie jungen Schülerinnen und Schülern heute? „Zu studieren, sich mit technischen oder gesellschaftlichen Themen zu beschäftigen und vielleicht mit einer eigenen Forschung die Gesellschaft voranzubringen, ist ein Traum“, erklärt sie. „Junge Menschen sollten sich Vorbilder suchen und Träume und Ziele verfolgen, auch wenn es nicht gleich klappt.“

Auch über die Querflöte, die Hedtke-Becker in die Arbeitswelt geführt hat, hat sie sich ihre Ziele verwirklicht. Das Instrument besitzt sie noch heute. Zwar habe sie die Flöte inzwischen mal überholen lassen müssen, aber: „Sie ist immer noch unglaublich schön und lässt sich sehr gut spielen“, versichert die Erziehungswissenschaftlerin. Vielleicht erklingt ja irgendwann auch aus dem Rektorenzimmer nochmal die Melodie von „El condor pasa“.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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