Mannheim. Jeden Tag, wenn Hannah Brill im Büro sitzt, schaut sie auf Rouven Laur. Die Trauerkarte mit seinem Bild steht seit einem Jahr auf ihrem Schreibtisch. „Für mich ist das ein Mahnmal, dass so etwas nie mehr passieren darf und wir unsere Kolleginnen und Kollegen auch in solchen Situation noch besser schützen müssen.“
Die 36 Jahre alte Polizistin ist mit Jonas Witzgall zum Gespräch gekommen. Beide arbeiten im Polizeipräsidium Mannheim, beide sind im Vorstand der Gewerkschaft der Polizei Mannheim (GdP). Für beide ist der Polizeiberuf noch immer ein Traumberuf. „Mir war immer bewusst, worauf ich mich einlasse“, sagt Brill. Und auch wenn sie hofft, niemals in eine solche Situation zu kommen, habe sie sich „bewusst für diese Gefahr entschieden, um für Gerechtigkeit zu sorgen“. Rouven Laur steht stellvertretend für viele Kolleginnen und Kollegen, die im Dienst alles gegeben haben, ergänzt Witzgall. „Sein Schicksal mahnt uns, wie gefährlich unser Beruf sein kann – und wie wichtig es ist, ihn mit ganzer Hingabe und im Bewusstsein unserer Verantwortung weiter auszuüben.“
Ist das Idealismus? Trotz? Sätze wie diese hat man nach dem 31. Mai oft von Polizisten gehört. Es gibt aber auch eine andere Seite. Die, die eine junge Kollegin Laurs Anfang Mai im Prozess gegen Sulaiman A. geschildert hat. Sie zweifelt seit dem Attentat, das sie im Einsatz erlebt hat, an ihrem Traumberuf. Psychische Folgen begleiten sie bis heute. „Vielen, vor allem jungen Kollegen, ist auf brutale Weise noch einmal bewusst geworden, wie nah am Tod unser Beruf manchmal ist“, berichtet Brill über Gespräche, die die GdP auch geführt hat.
Vielleicht auch deshalb wollen sich die Gewerkschafter in diesem Gespräch mit markanten Forderungen zurückhalten. Der Gedenktag sei kein passender Anlass für Politik, sagt Witzgall, sonst selten um gewerkschaftliche Forderungen verlegen. Vor einem Jahr aber sei ein Kollege getötet und die so dicke Haut der deutschen Polizei schwer verletzt worden. „Diese Wunde wird immer sichtbar sein und nie heilen.“
Brill erinnert sich noch gut an jenen Vormittag: Während einer Übung – ausgerechnet zu lebensbedrohlichen Einsatzlagen – in Heidelberg, an der sie als Ausbildern teilnimmt, erreichen die ersten Nachrichten aus Mannheim die Beamten – und das Video des Attentats. „Es wurde sehr schnell sehr still“, sagt sie. „Die Betroffenheit war greifbar.“ Die Übung wird abgebrochen. Alle Polizisten, sagt sie, werden sich immer daran erinnern, was sie am 31. Mai gemacht haben. „So wie sich alle Menschen an den 11. September 2001 erinnern können.“ Auch nach einem Jahr falle es ihr schwer, über diesen Tag zu sprechen. „Ich spüre immer noch eine innerliche Unruhe. Ich bekomme Gänsehaut.“
Vielen, vor allem jungen Kollegen, ist auf brutale Weise noch einmal bewusst geworden, wie nah am Tod unser Beruf manchmal ist.
Gerne hätte diese Redaktion auch die Präsidentin des Präsidiums, Ulrike Schäfer, gefragt, in welchem Ausmaß das Attentat Polizei und Stadt noch beschäftigt. Man bitte um Verständnis, dass der erste Jahrestag für das Präsidium „sehr belastend sein wird“ und man angesichts zahlreicher Anfragen deshalb keine Stellungnahmen dazu abgeben werde, teilt eine Sprecherin aber mit.
Die Tat hat das Innenleben der Polizei jedenfalls verändert, sagt Witzgall. Die psychosoziale Betreuung der Beamten durch das Präsidium habe zu einem bewussteren Umgang mit eigenen Gefühlen geführt. „Man ist nicht mehr schwach, wenn man in Gesprächen mit Kollegen auch mal negative Emotionen zeigt. Das kann inzwischen auch eine Stärke sein.“ Die Stadt allerdings, darin sind sich beide Beamte einig, habe sich insgesamt „nicht wirklich“ verändert.
Und der Umgang mit der Polizei? Der überwiegende Teil der Bevölkerung stehe hinter den Beamten, die das „sehr zu schätzen“ wüssten, antwortet Witzgall. „Was aber auffällt: Die kleine Minderheit, die uns mit Respektlosigkeit begegnet, ist oft lauter als die große Mehrheit, die uns unterstützt.“ Vom Applaus für die Polizei während der Gedenkfeier auf dem Marktplatz drei Tage nach dem Attentat sei im Alltag jedenfalls nicht mehr viel zu spüren. „Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen offen hinter die Polizei stellen. Gerade in schwierigen Zeiten ist das ein wichtiges Zeichen auch für die Kolleginnen und Kollegen auf der Straße“, sagt Witzgall.
Und dann wird es doch noch politisch. Große Diskussionen um den Einsatz von Tasern, Bodycams oder Ähnlichem würden sich im Zusammenhang mit dem 31. Mai zwar verbieten. „Das hätte Rouven auch nicht geholfen“, sagt Witzgall. Die GdP aber kritisiert, dass Beamte für die Versorgung schwerer Verletzungen unzureichend ausgestattet seien. So fordert die GdP ein sogenanntes EIFAK für alle Fahrzeuge. Das „Essential Individual First Aid Kit“ ist ein erweitertes Set, das speziell zur schnellen Versorgung lebensbedrohlicher Verletzungen wie starken Blutungen oder Atemwegsproblemen konzipiert wurde.
Man ist nicht mehr schwach, wenn man in Gesprächen mit Kollegen auch mal negative Emotionen zeigt. Das kann inzwischen auch eine Stärke sein.
Derzeit sind nur einige Fahrzeuge mit dem System ausgestattet. Am 31. Mai kam das System zum Einsatz. Allerdings, so berichtete es eine Kollegin Laurs vor Gericht, war nur eines der Fahrzeuge damit ausgestattet, weshalb es einige Sekunden länger gedauert hatte, es bereitzustellen. Sekunden, die bei weniger dramatischeren Verletzungen als Laur sie hatte entscheidend sein könnten.
Einst war das EIFAK als Teil der persönlichen Ausrüstung jedes Beamten gedacht – ähnlich wie Handschellen, Taschenlampe oder die Waffe. Diese flächendeckende Ausstattung sei allerdings an Kostengründen gescheitert, erklären Witzgall und Brill. Heute befinden sich die meisten EIFAKs deshalb entweder in den Einsatzfahrzeugen oder sind an der Zusatzschutzausstattung befestigt, die speziell bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen getragen wird. In der Praxis bedeutet das aber, dass das System im Ernstfall nicht immer unmittelbar verfügbar ist. „Wenn eine Konsequenz aus dem 31. Mai 2024 wäre, dass jeder Beamte ein EIFAK griffbereit haben könnte, hätte sich nach dem 31. Mai 2024 schon viel bewegt.“
Gedenktag zum Jahrestag: In Mannheim wird am Samstag, 31. Mai 2025, mit einer Gedenkfeier auf dem Marktplatz an Rouven Laur erinnert. Alles zu der Veranstaltung begleitet der „Mannheimer Morgen“ ab Samstagvormittag in einem Liveblog hier.
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