Mannheim. Das Messerattentat vor einem Jahr hat das Leben von Opfern und Hinterbliebenen drastisch verändert. Aber hat es auch das Leben in der Stadt verändert? Und wenn ja – wie? Wir haben uns umgehört.
Friedel Goetz, Polizeiseelsorger und Pfarrer der evangelischen ChristusFriedenGemeinde
„Zunächst muss man sich fragen: Was bedeutet Mannheim? Wer ist Mannheim, wen in Mannheim hat dieses Verbrechen verändert? Man muss unterschiedliche Schichten von Menschen betrachten, um diese Frage zu beantworten. Für die Menschen, die ganz nah dran waren - Familienmitglieder, Freunde, aber auch die Menschen bei der Polizei - hat der 31. Mai 2024 sehr viel verändert, mitunter alles. Sie empfinden einen persönlichen Schmerz, und der Tod von Rouven Laur wird eine lebenslange Zäsur für sie darstellen.
Wie es bei den übrigen Menschen in Mannheim ist, das ist schwer zu messen, dafür kenne ich kein objektiv anerkanntes Messverfahren. Aus meiner Erfahrung als Pfarrer heraus bin ich überzeugt davon, dass Trauer verändert. Das hängt aber ganz stark davon ab, wie sehr man diese Trauer zulässt, die ganz viel in uns anstößt und uns das eigene Leben neu betrachten und bedenken lässt. Wenn wir Menschen einen Widerwillen gegen diese Gewalt, Ungerechtigkeit und Fanatismus erkennen, dann schafft dies ein Bewusstsein für die unverzichtbaren Werte unseres Zusammenlebens – und das verändert das Leben.
Des Weiteren nehme ich eine Verletzung wahr, bei allen, die sich mit Mannheim identifizieren. Ich selbst wurde durch die Amokfahrt vom Rosenmontag wieder an den 31. Mai 2024 erinnert. Obwohl die Tat eine vollkommen andere war, hatte ich das Gefühl, die alte Wunde wurde dadurch wieder aufgerissen. Sie ist noch nicht verheilt. Was in einer Stadt geschehen ist, geschieht und geschehen wird, das hängt miteinander zusammen.
Diese Welt ist ein Ort, an dem man jederzeit an Vertrauenslosigkeit zerbrechen kann. Oder man tut dies eben nicht. Ich persönlich stehe auf der Seite des Vertrauens, weil wir nur einmal leben und die Aufgabe haben, weiterzumachen. So wie ich Rouven Laur verstanden habe, war er jemand, der die Welt in ihrer Zerrissenheit kannte und der Dinge trotzdem angepackt hat. Und in diesem Sinne sollten wir weitermachen.
Zum Jahrestag des Verbrechens soll eine Gedenktafel für Rouven Laur angebracht werden. Es gibt also das Bedürfnis, seinen Einsatz, sein ziviles Engagement, sein Leben nicht zu vergessen. Auch in der Zukunft liegt es an uns, uns davon berühren zu lassen, damit unser Marktplatz kein Sinnbild für Gewalt und Fanatismus wird.“
Eine 20-jährige Frau, in Mannheim aufgewachsene Deutsche mit türkischen Wurzeln, die wir an der Gedenkstelle auf dem Marktplatz treffen. Sie möchte anonym bleiben.
„Ich bin nicht besonders stark religiös, ich trage zum Beispiel kein Kopftuch. Aber der Islam spielt für mich schon eine Rolle. Ob die Messerattacke mit einem islamistischen Täter Mannheim und das Zusammenleben hier verändert hat? Teilweise schon, würde ich sagen.
Eine Freundin von mir kommt aus Afghanistan, dem Land, aus dem auch der Messerangreifer stammt. Viele Wochen nach der Tat auf dem Marktplatz war ich mit ihr mal in einem Café oder in einem Restaurant, ich weiß es nicht mehr so genau. Und einfach aus Gastfreundschaft wollten die Gastgeber wissen, wo wir herkommen. Da sagte meine Freundin, dass sie Türkin sei – weil sie mit ihrem afghanischen Hintergrund Angst hatte, diskriminiert zu werden. Sie hat ihre Herkunft nach dem Attentat oft nicht erwähnt.
Auch mein Papa hatte nach dem Angriff Angst, dass Muslime in Mannheim jetzt vorverurteilt werden. Ein bisschen war es ja auch so. Am Tag der Amokfahrt im März war ich selbst in der Innenstadt unterwegs. Da hieß es sofort „Das war wieder ein Muslim“. Obwohl das gar nicht stimmte. Jedes Mal, wenn ich aus dem Wohlgelegen, wo ich wohne, mit der Straßenbahn am Marktplatz vorbeifahre, denke ich an den Messerangriff, und es wird für mich emotional. Es ist gut, dass hier immer noch Menschen herkommen und Blumen, Kerzen oder Steinfiguren abstellen.“
Christian Specht, Oberbürgermeister
„Ich war nur wenige Minuten nach dem Attentat auf dem Marktplatz, habe noch gesehen, wie Ärztinnen und Ärzte unseres Gesundheitsamts dort Verletzte versorgt haben. Schon da war mir klar, dass die Auswirkungen der Tat auf unsere Stadt groß sein werden.
Am nächsten Tag, einem Samstag, bin ich morgens auf den Markt gegangen, habe mit Passanten und Händlern gesprochen, um die Stimmung in der Stadt zu spüren. Das war ein sehr persönlicher Moment für mich. Ich habe gefühlt, dass der Zusammenhalt in unserer Stadtgesellschaft schwer erschüttert ist, dass gleichzeitig aber auch die Bereitschaft zum Gespräch immer noch vorhanden war. Das haben wir genutzt, um den bestehenden Dialog mit den Moscheegemeinden und den Gewerbetreibenden im Umfeld des Marktplatzes zu stärken.
In den ersten Tagen nach dem Anschlag eines religiösen Fanatikers war es mir besonders wichtig, dass insbesondere auch bei den Mitbürgern muslimischen Glaubens keine Ängste entstehen. Mit dem interreligiösen Friedensgebet und meiner Ansprache am Montag haben wir den Weg für weitere Gespräche geöffnet. Ich bin sehr froh, dass der Dialog zwischen den Religionen inzwischen wieder in Gang gekommen ist. Gerade vor kurzem haben über 30 interkulturelle Vereine und Institutionen an der Tafel der Nationen auf dem Toulonplatz teilgenommen. In wenigen Tagen wird auch die Meile der Religionen wieder stattfinden.
Darüber hinaus hat die Tat natürlich auch das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger berührt. Deshalb haben wir uns auch nach der Todesfahrt dazu entschieden, die schon bestehende Sicherheitskonzeption für die Stadt noch einmal durch externe Experten zu überprüfen und den intelligenten Videoschutz auszuweiten.“

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Cem Yalcinkaya, Gemeindesekretär des türkisch-islamischen Religionsverbandes DITIB Mannheim
„Mein Alltag als Privatperson hat sich kaum verändert. Aber in meiner Rolle als Gemeindesekretär hat sich vieles bewegt: Es hat mehr Anfragen gegeben, mehr mediale Aufmerksamkeit und neue Formate des Austauschs – auch mit anderen Vereinen.
Die Reaktionen nach dem 31. Mai haben mich an die Zeit nach dem 11. September 2001 erinnert. Wir sind damit aufgewachsen, dass Terroristen unter dem Deckmantel der Religion spalten und gezielt Minderheiten treffen wollen. Doch viele Menschen schauen heute genauer hin. Sie unterscheiden. Das gibt Hoffnung. In unserer Gemeinde wurde die Tat klar verurteilt. Viele von uns kennen Polizeibeamte persönlich. Die Polizei hat immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund in ihren Reihen – das stärkt die Identifikation. Ohne Polizei gibt es keine Sicherheit – das ist uns bewusst. Die Zusammenarbeit mit Behörden gehört für uns zum Alltag.
Das Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften und muslimischen Gemeinden ist dynamisch. Es zeigt sich: Manche Projekte sind keine „Chefsache“ mehr. Wir setzen auf direkte, ehrliche Gespräche. Die junge Generation war gemeinsam im Kindergarten, in der Schule, im Sportverein – und steht heute zusammen im Berufsleben. Über Jahre sind auf diese Weise tiefe Verbindungen und Netzwerke in der Stadt gewachsen.
Ich sehe die größte Herausforderung im Auseinandergehen der sozialen Schere. Das Leid der Welt erreicht uns in Echtzeit. Geflüchtete tragen schwer an Krieg und Verlust. Junge Menschen ohne Halt sind gefährdet. Populisten und Extremisten – religiöse wie politische – nutzen das gezielt aus. Das bringt Menschen in Gefahr und birgt Konfliktpotenzial.
Die Wirkung von Projekten muss stärker diskutiert werden – und die Frage, wer sichtbar vertreten ist. Im Gemeinderat fehlen Stimmen, die große Teile der Stadtgesellschaft widerspiegeln und verstehen. Die Diskussionen der letzten zwölf Monate haben gezeigt, dass das oft fehlt.
Der 31. Mai 2024 war eine Zäsur. Aber wir lassen uns nicht spalten.“
Esther Baumgärtner, Quartiermanagerin Mannheimer Unterstadt
„Das Schicksal von Rouven Laur, der in Ausübung seiner Pflicht viel zu jung sein Leben verloren hat, hat wohl niemanden im Quartier unberührt gelassen. Die Atmosphäre am Marktplatz ist zwar nicht mehr unmittelbar von den damaligen Ereignissen geprägt, aber sie hat sich doch durch den Erinnerungsort etwas verändert, ist etwas leiser geworden und zuweilen andächtig. Geblieben ist der Eindruck, dass unabhängig davon, wie gut wir das Miteinander in unserer vielfältigen Stadtgesellschaft organisiert haben, nicht jeder unsere Werte teilt und dass die Verteidigung dieser Werte mitunter einen hohen Preis fordert.
Der Stadt Mannheim ist es gemeinsam mit verschiedenen Religionsgemeinschaften gelungen, mit interreligiösen Trauer- und Erinnerungsangeboten dem vielfältigen Umgang mit den Ereignissen einen angemessenen, würdigen und gemeinschaftsstiftenden Rahmen zu geben. Dass auch zum Jahrestag eine entsprechende Veranstaltung geplant ist, ist sehr zu begrüßen.
Seit der mutmaßlichen Amokfahrt vom Rosenmontag ist der Besuch einer solchen für den Zusammenhalt in einer Stadtgesellschaft wichtigen Veranstaltung aber tatsächlich für den einen oder die andere mit einem mulmigen Gefühl verbunden. Dies hat wie auch die Ereignisse am und in Folge des 31. Mai 2024 tatsächlich Einfluss auf unsere Arbeit, da wir uns zunehmend damit befassen, kurzfristig proaktiv zu einer faktenbasierten Einordnung von Informationen beizutragen und Menschen, die sich von solchen Ereignissen besonders belastet fühlen, trotz mitunter vorhandener Sprachbarrieren zu unterstützen und gegebenenfalls zu vermitteln.“
Polizeipräsidentin Ulrike Schäfer wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Man bitte um Verständnis, dass der erste Jahrestag für das Präsidium „sehr belastend sein wird“ und man angesichts zahlreicher Anfragen deshalb keine Stellungnahmen abgeben werde, teilte eine Sprecherin mit.
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