Hebammenhilfevertrag

Noch weniger Geld: Eine Mannheimer Hebamme macht trotzdem weiter

Simone Kurek hat in ihrem Traumberuf „Hebamme“ nie viel verdient. Mit dem Hebammenhilfevertrag drohen der Mannheimerin nun Einkommensverluste – anderen sogar das berufliche Aus.

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Tim Feldmann
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Simone Kurek wiegt die wenige Tage alte Karla mit ihrer sogenannten Fischwage. Der Säugling hat Gewicht aufzuholen. © Tim Feldmann

Mannheim. Ein Banksy-Imitat von „Girl with Ballon“ an der Hauswand, bepflanzte Balkone, wenig fahrende, viele parkende Autos: Nur eine schief pfeifende Postbotin mit Kopfhörern und die ratternden Dieselmotoren des Paketboten und eines Gärtners stören die Idylle in der Neckarstadt-Ost. Hier wohnt Karla. Und die hat nur eine Aufgabe: zunehmen. Karla ist nur etwas über 50 Zentimeter groß und wog bisher keine drei Kilogramm. Karla war früh dran.

Simone Kurek verspätet sich dagegen um ein paar Minuten. Sie nimmt sich so viel Zeit für ihre Besuche, wie nötig. Kurek ist freiberufliche Hebamme. Es ist ihr zweiter Hausbesuch an diesem Montagmorgen. Vier weitere folgen noch. Dass die 53-Jährige damit auch nach dem 1. November weitermacht, ist für sie klar. Für andere ihrer Kolleginnen nicht.

Ein neuer Vertrag stellt die Arbeit von Kurek und vieler Hebammen infrage

Irgendwann an diesem Tag sagt Kurek, „die Kolleginnen an der Front trifft der neue Hebammenhilfevertrag besonders hart“. Mit „Front“ meint sie die Beleghebammen in den Kreißsälen, die die Geburten begleiten. Ab November werden die laut Deutschem Hebammenverband (DHV) wegen des neuen Vertrags bis zu einem Drittel ihres Einkommens verlieren.

Aber auch freiberufliche Hebammen in der Vor- und am Nachsorge sind betroffen: Mehr Verwaltungsaufwand, für den die Selbstständigen niemand bezahlt. Kleine Beträge wie Beratungen am Telefon unter vier Minuten fallen weg – das „Ruf an oder schreib mir, wenn du eine Frage hast“ bringt nun kein Geld mehr. Kurek sagt, sie kalkuliere ebenfalls mit bis zu einem Drittel weniger Einkommen. Die könne sie aber teilweise ausgleichen. Der DHV hält kleine Einkommensgewinne für möglich, wenn auch weit unter der Inflationsentwicklung. Die Beleghebammen im Kreißsaal trifft es härter: Viele könnte der Vertrag dazu zwingen, den Beruf aufzugeben.

In der Neckarstadt steigt die Hebamme und selbst zweifache Mutter im Wollmantel von ihrem giftgrünen E-Bike ab. Auf dem Weg durch den Hausflur in die Wohnung hängt ein Zettel am Treppenaufgang: „Hallo liebe Bewohner*innen, unsere kleine Karla ist am 2. Oktober zur Welt gekommen.“ Weiter bitten die Eltern darin um Nachsicht für den Kinderwagen im Hauseingang.

Simone Kurek ist seit 27 Jahren examinierte Hebamme und lebt fast genauso lange in Mannheim. © Tim Feldmann

Oben angelangt, öffnet eine Mutter in Jogginghose die Tür. Im Wohnzimmer eine mit Cord überzogene Couch in Flieder, ein gerahmtes Theaterplakat, Parkettboden. Mama und Papa sprechen beide mit leiser Stimme. Da ist sie wieder, die Idylle, in die die Hebamme Simone Kurek nicht ganz hineinpasst. Ihr Ton ist keck. Kurek redet an diesem Tag viel von „Kacke“ oder „Titties“, wenn es um die Neugeborenen geht. Und doch stört sie die Idylle der jungen Familie nicht.

Stattdessen diskutiert die Hebamme mit den Eltern über das schönste Café im Viertel, wie mit Freundinnen. Wenn sie auf ihren Terminplaner schaut, spricht sie von ihren „Muttis“. Diese Mutti vertraut ihr vielleicht eben wegen ihres Humors, wenn Kurek etwa Anekdoten erzählt, wie: „Eine Mutter hat eine Kollegin mal gefragt, wann das Preisschild abfällt.“ Gemeint ist der vertrocknete Fortsatz der Nabelschnur, der sich nach einigen Tagen von allein vom Bauchnabel löst.

Kommentar Neuer Vertrag verschärft den Mangel an Hebammen

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Karla ist gerade mal zehn Tage alt. Ihr Wickeltisch steht in einem Zimmer, das in Olivgrün gestrichen ist. Isst sie genug? Geht es ihr gut? Wiegt sie genug? Hat sie alles, was sie braucht? Wie dick muss sie draußen angezogen sein? Welche Farbe sollte ihre „Kacke“ haben? Kurek redet gerne, aber sie nimmt sich nicht minder viel Zeit für die Fragen der Eltern.

Wenn die Bedenken aus den Eltern heraussprudeln, hört Kurek zu. Was darf die Mutter essen, wenn sie stillt? Wohin mit all der Muttermilch? Bei einer anderen: Woher all die Muttermilch? Auf die meisten Fragen hat Kurek eine Antwort. Dafür ist sie hier. Und wenn sie nicht da ist, können die Eltern schreiben, anrufen. Wenn es sein muss, besucht die Hebamme sie täglich.

Hebammen betreuen nicht nur die Kinder

Neben der kleinen Karla braucht noch eine andere Person dringend Kureks Fürsorge. Ihre Mutter hat die Torturen der Geburt durchlebt, hat sich verletzt. Karla ist nicht die Einzige, die zur Bettruhe verdonnert ist, viel schlafen und zu Kräften kommen soll. Nach der Geburt sind die meisten Mütter geschwächt. Sie brauchen Erholung. Meistens eine Woche, manchmal länger: Wochenbett nennt sich das. Meist noch bevor sie sich dem Kind zuwendet, fragt Kurek: „Und, wie geht es dir, meine Liebe?“ Darauf im Piano die Frage: „Pipi-Kacka klappt auch?“

Die Gespräche zwischen den Eltern und Kurek drehen sich ansonsten viel um Dezimalzahlen wie „vier Komma fünf“. Gemeint sind Kilogramm, konkreter das Gewicht der Kinder. Wachsen sie alle, wie sie sollen? Gerade bei der kleinen Karla ist die Hebamme besonders gespannt. „Wenn sie 3000 hat, dann bin ich zufrieden“ kündigt Kurek bereits beim Einmarsch in die Wohnung an. Die Neugeborene hat etwas aufzuholen. Eine halbe Stunde später wird sie rufen: „Jawoll! Punktlandung.“ Karla hat scheinbar reingehauen: drei Komma null.

Freiberufliche Hebammen begleiten im Landkreis Rhein-Neckar überdurchschnittlich viele Geburten

Von Karla zu Angle sind es mit dem giftgrünen E-Bike vielleicht drei Minuten. Von der Neckarstadt an die Neckarpromenade: Wohn-Tower. Der Aufzug schleppt sich über ein, zwei Minuten, in den 14. Stock. Angles Mutter ist alleinerziehend und Angle ist nicht ihr erstes Kind, sondern ihr fünftes.

Wie hart der neue Hebammenhilfevertrag die Versorgung in Mannheim trifft, wird sich in wenigen Wochen zeigen. Laut Hebammenverband Baden-Württemberg werden knapp die Hälfte der Geburten im Landkreis Rhein-Neckar von Beleghebammen begleitet – weit über dem Bundesdurchschnitt. Laut Hebammenverband Baden-Württemberg habe sich hier bereits ein ganzes Team im Kreißsaal aus der Freiberuflichkeit verabschiedet und sich anstellen lassen. Mindestens zehn weitere Kolleginnen hätten demzufolge ihre Verträge gekündigt – von 60 Beleghebammen insgesamt in der Region, so schätzt der Landesverband.

Die Wohnungstür öffnet Angles Mutter in einem langen T-Shirt und mit einer pinken, seidig schimmernden Duschhaube auf dem Kopf, auf die querbeet Schmetterlinge aufgedruckt sind. Kurek betritt ein mit Vorhängen verdunkeltes Schlafzimmer, in dem sich Koffer vor der Balkontür stapeln. Angles Kinderbett steht gleich neben dem der Mutter. Kurek braust in diese Wohnung genauso herein wie zuvor in die der kleinen Karla. Wie geht es Angle?

Kureks Etui mit Familienfoto auf dem Wickeltisch der kleinen Karla. Hierin verstaut Kurek auch ihr Tablett, auf dem sie die Gewichtszunahme der Säuglinge dokumentiert. © Tim Feldmann

Kurek kommt ins Stocken. Bevor sie das Kind aufs gewöhnliche Schmatzen nach Muttermilch, Feuchtigkeit der Haut, die Speckröllchen untersuchen und wiegen kann, erkundigt sie sich erstmal bei der Mutter nach ihrem eigenen Wohlbefinden. Kureks Englisch ist solide. Wo ihr die Worte fehlen, behilft sie sich mit Gesten: Mit der Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger deutet sie an ihrem eignen Korpus auf die Region der Leber. „Fluids!“ Kurek erklärt anatomische Details mit Händen und Füßen unter dem fragenden Blick der Mutter. Sie nimmt sich Zeit für ihre „Mutti“. Dann wendet sie sich Angle zu.

Das 26 Tage alte Mädchen liegt im Schoß ihrer Mutter. Die hat Angle bereits teils einarmig mit gekonnten Griffen entkleidet, während die Hebamme noch ihre Erläuterungen gestikuliert. Kleidung verzerrt die Gewichtsmessung, deshalb muss sie aus. Dann wickelt Kurek das nackte Kind in ein an den Enden verknotetes Spucktuch; eines wie die, in denen Störche die Kinder bringen. Nur, dass da statt eines Schnabels eine Fischwaage Angles Gewicht misst. Plötzlich schreckt Kurek auf: „Huch, ich habe einen Besuch vergessen! Egal, mache ich hier nach“, denkt sie laut. Nur, um im selben Moment wieder aufzulachen – in Freude über Angles guten Gewichtszuwachs: „Over four kilo!“ Das ist, was für Kurek zählt.

Krankenkassen und Deutscher Hebammenverband bewerten den Vertrag unterschiedlich

Die Hebamme wendet sich wieder der Mutter zu. Letztere legt sich gerade aufs Bett und zieht ihr T-Shirt bis unter die Brust. Ihr Bauch ist noch rund. Das sei normal nach der Geburt. Kurek tastet ab: „Hier steht die Gebärmutter“, und legt drei Finger unter den Bauchnabel. „Does it still hurt?“ Fragt Kurek, und: „I see it in your face – I can touch your belly and there is no pain.“ Während die Hebamme sich verabschiedet, versichert sie der Mutter, sie solle anrufen, wenn sie Kurek brauche. Bis sie an der Wohnungstür angelangt, wiederholt sie ihr Angebot mehrfach.

Freiberufliche Hebammen arbeiten in der Geburtsvorsorge, am Wochenbett, im Kreißsaal. Sie begleiten ein Fünftel der Geburten in Deutschland. Freiberufliche werden von den Krankenkassen bezahlt. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) sagt auf Nachfrage, die neue Reglung verbessere das Einkommen der Hebammen wie auch die Versorgung der werdenden Mütter. Unter Einbezug zweier Hebammenverbände, aber ohne Beteiligung des DHV, beschloss ein Schiedsgericht im April den neuen Hebammenhilfevertrag. Helfen tue der laut DHV nur denen, die sich nach der Geburt mehr Zeit für weniger Mütter nähmen. Das könnte erschweren, überhaupt eine Hebamme zu finden. Andere Freiberuflerinnen müssen mit Einkommensverlusten rechnen.

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Simone Kurek wird noch drei weiteren jungen Familien an diesem Montag vor allem eins geben: Sicherheit. Sie hat Tipps, um die Milchproduktion anzuregen, erkennt früh, wenn Kind oder Mutter gesundheitlich behandelt werden müssen, aber vor allem ermutigt sie die Eltern, sich in ihrer Rolle einzufinden. Die wollen ihrem Kind den bestmöglichen Start ins Leben zu bescheren. Sie haben Angst, etwas falsch zu machen – aus Unwissenheit, fehlender Erfahrung. Gerade bei Erstgeborenen. Immer wieder versichert Kurek den jungen Müttern und Vätern, alles richtigzumachen. Viermal wird sie an diesem Tag auf trockene Hautstellen der Babys angesprochen. Viermal sagt sie dann: Das Baby wechsle von seiner Wasserhaut aus der Gebärmutter in seine Lufthaut. „Die häuten sich wie eine Schlange.“ Das sei ganz normal. Wer sagt das den jungen Eltern, wenn nicht eine Hebamme?

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