Der Journalist und ehemalige „Spiegel“-Chefredakteur kommentierte am 9. November 1989 die Ereignisse von Berlin in einem Fernsehstudio in Hamburg. Erinnerungen an historische Tage. Ein Gastbeitrag von Stefan Aust
Das war der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging.“ Es war Donnerstag, der 9. November 1989, als ich diese Zeile in meine Schreibmaschine tippte. Ich saß in einem Büro von Studio Hamburg und sollte den Abendkommentar für RTL sprechen.
Auf dem Fernseher lief die Zusammenfassung eines Fußballspiels. Die ARD hatte den Beginn der „Tagesthemen“ nach hinten verlegt, um die Sendung nicht zu unterbrechen. Ich schaltete weiter. Im gemeinsamen Dritten Programm des Norddeutschen Rundfunks und des Senders Freies Berlin mühten sich Reporter, die undurchsichtige Lage an der Westseite der Berliner Mauer zu analysieren.
Gegen 19 Uhr an diesem Abend hatte das Mitglied des SED-Politbüros Günter Schabowski am Ende einer Pressekonferenz fast beiläufig und in geübter Bürokratensprache eine weltpolitische Sensation verkündet: „Dann haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“
„Gilt das auch für West-Berlin?“, fragte ein Journalist. „Also, doch, doch“, antwortete der DDR-Politiker. „Ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen.“ Ständige Ausreise? Ungläubiges Staunen machte sich in den Gesichtern der westlichen Korrespondenten breit.
Ein italienischer Journalist fragte, ab wann denn diese Regelung gelte. Scheinbar irritiert blickte Schabowski auf seine Vorlage. Dann stammelte er: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, ... unverzüglich.“
Die Nachricht hatte mich im Auto erreicht. Maggie Deckenbrock, stellvertretende Chefredakteurin des neuen kommerziellen Fernsehsenders RTL, rief an und fragte mich, ob ich nicht den Kommentar zur Maueröffnung sprechen wolle, der Chefredakteur des Senders sei gerade in Urlaub. Man könne ihn nicht erreichen.
„Zur was?“, fragte ich.
„Zur Maueröffnung.“ Sie haben es tatsächlich gemacht, dachte ich, und willigte ein. Zum Studio Hamburg musste ich durch die ganze Stadt fahren. Während ich mich durch den Verkehr quälte, gingen meine Gedanken zurück.
Am Montag jener Woche hatte mich abends der damalige Chefredakteur des „Spiegel“, Werner Funk, zu Hause besucht. Wenige Tage zuvor hatte Egon Krenz, Nachfolger des abgelösten Staats- und Parteichefs Erich Honecker, die im Oktober verhängte Visa-Sperre für die Tschechoslowakei aufgehoben.
Jetzt durften DDR-Bürger wieder nach Prag reisen – und hatten dadurch die Möglichkeit, sich von dort aus über Ungarn in den Westen abzusetzen. Funk fand das politisch höchst gefährlich. Als er sich vor der Haustür verabschiedete, sagte er: „Der ist völlig verrückt. Die laufen ihm doch jetzt alle weg.“
Georg Mascolo reist nach Berlin
„Dem bleibt nichts anderes übrig“, sagte ich. „Anstelle von Krenz würde ich jetzt die Mauer aufmachen.“ Funk lachte laut: „Du immer mit deinen Ideen …“ Er lief die Treppe nach oben. „Weißt du was“, antworte ich. „Wenn du ein Loch in der Badewanne hast, dann ziehst du besser den Stöpsel raus. Dann läuft das Wasser durch den Abfluss und nicht in die Wohnung…“ Funk lachte noch immer, und ich ging ins Haus zurück. Währenddessen schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Die sind auch nicht blöder als du. Die machen das.
Am nächsten Morgen, es war Dienstag, der 7. November 1989, suchte ich mir bei „Spiegel TV“ den besten Reporter, der im Hause war. Ich stieß auf Georg Mascolo, einen pfiffigen Jungjournalisten, den ich gut ein Jahr zuvor beim privaten Rundfunksender Radio FFN abgeworben hatte. „Georg, schnapp dir ein Kamerateam und fahr nach Ost-Berlin“, sagte ich. „Und welche Geschichte soll ich da machen?“, fragte Mascolo. „Keine bestimmte“, antwortete ich. „Bleib in der Nähe der Mauer. Da passiert irgendetwas.“ Ungläubig schüttelte der Reporter den Kopf. „Und wie stellst du dir das vor?“„Keine Ahnung. Fahr nach Ost-Berlin, pass auf, was passiert, und geh dahin, wo die Menschen hingehen.“
Georg machte sich mit dem Kamerateam auf die Reise zur Beobachtung der Mauer in Berlin. Wenig später filmte er die historische Szene, wie der Schlagbaum an der Bornholmer Straße geöffnet wurde. Doch diese Bilder kannte ich noch nicht, als ich an diesem Abend im Hamburger Studio an der Schreibmaschine saß und meinen Kommentar tippte. Die Nachrichtenlage war dürftig, aber ich war sicher, dass unser Kamerateam an der richtigen Stelle sein würde. Ich studierte die Agenturmeldungen:
„Do, 09.11.1989, 19:04 DDR/Reise/ Eil!!!! Von sofort an Ausreise über innerdeutsche Grenzstellen möglich.“
Drei Stunden später war die Mauer sperrangelweit offen. Die Menschen strömten von Ost-Berlin nach West-Berlin. Es gab sogar Bilder vom Brandenburger Tor. Die Menschen kletterten von Westen her auf die Mauer und sprangen auf der Ostseite herunter. Dann liefen sie unter dem Tor durch. Dafür wäre man 28 Jahre lang erschossen worden.
Ich war zuversichtlich, das Team von „Spiegel TV“ würde an der richtigen Stelle stehen, und tippte den ersten Satz meines Kommentars: „Das war der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging.“ Ich zögerte. War das nicht etwas übertrieben? Sollte jetzt wirklich die gesamte Nachkriegsordnung, die Teilung Deutschlands, die Teilung Europas zu Ende sein?
Ende des Obrigkeitsstaates
Ich schränkte die Analyse etwas ein und fuhr fort: „Jedenfalls für jene 16 Millionen Deutschen, die unter den Folgen am längsten zu leiden hatten – die DDR-Bürger. Aber nicht nur für sie. Kein Zweifel: Die Öffnung der Grenzen ist das Ende eines Obrigkeitsstaates. Der Anfang der Demokratie. In einer geschlossenen Anstalt können die Insassen herumkommandiert werden. Sobald die Tür offen ist, hat die Obrigkeit ausgespielt. Wer sich jederzeit verabschieden kann, ist kein rechtloser Untertan mehr.
Kein Zweifel: eine historische Stunde. Die DDR-Führung hat das einzig Richtige getan: die Flucht nach vorn. Sie behebt damit einen wesentlichen Grund für die Flucht ihrer Bürger – nämlich das Eingesperrtsein. Das ist so banal, wie es grotesk war zu glauben, ein Land könnte durch eine feste Grenze stabilisiert werden. Diese Lebenslüge, seit dem Tag des Mauerbaues in Berlin, hat verhindert, dass aus der DDR ein Staat werden konnte, in dem Menschen gern und freiwillig lebten.
Dieser Tag ändert alles. Wer seine Bürger nicht festhalten kann, muss um ihre Zustimmung werben. Das ist die Aufgabe des absoluten Machtanspruchs der SED. Falls in dieser unkalkulierbaren Zeit nicht eine Katastrophe eintritt, die auszumalen man sich besser hüten sollte, ist der Weg vorgezeichnet – freie Wahlen, ein Mehrparteiensystem.“
Dass an diesem Abend auch der Weg in die Einheit begonnen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Zu stark, zu mächtig erschien immer noch das Sowjetreich. Anzunehmen, dass Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow die Satellitenstaaten von Polen bis zur DDR, von Bulgarien bis zu den baltischen Ländern aufgeben würde, schien unvorstellbar. Trotz Glasnost und Perestroika.
Ich schrieb weiter: „Die DDR-Führung hat mit ihrer Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, auch ein Stück Problem an die Bundesrepublik delegiert. Bisher haben wir anklagend, manchmal mit der Hybris des Bessergestellten, auf die Mauer hingewiesen, dieses Stein gewordene Monument von Unterdrückung und Unzulänglichkeit, diesen monumentalen Offenbarungseid eines sich sozialistisch nennenden Staates. Jetzt werden Flüchtlings- oder besser gesagt Aussiedlerzahlen vorwiegend unser Problem sein. 30, 40 Jahre hat man gerufen: Macht das Tor auf. Und jetzt, da es offen ist? Konzepte, Ideen? Wie das Wirtschaftsgefälle beseitigen – ohne, worauf einige sicher spekulieren, die DDR zu kaufen, zu kolonialisieren? Die Probleme beginnen erst richtig. Die Mauer hat auch uns geschützt – vor dem Nachdenken nämlich. Ein historischer Tag auch noch in einem anderen Sinne: die erste gelungene Deutsche Revolution. Friedlich. Und wir waren dabei.“
Irgendwie war ich unsicher, ob ich mich in meinen Einschätzungen nicht zu weit vorgewagt hatte. Ich sprach den Text trotzdem an diesem Abend gegen 23 Uhr in die Kamera. Wenige Tage und Wochen später war klar, dass ich zwar weiter gegangen war als jeder andere Kommentator in dieser Nacht, aber längst nicht weit genug. Die Wirklichkeit war schneller als alle Gedanken.
Stefan Aust
- Der Journalist Stefan Aust wurde im Juli 1946 im niedersächsischen Stade geboren.
- Von 1994 bis 2008 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“.
- Seit 2014 ist Aust Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“ und war zwischenzeitlich auch ihr Chefredakteur.
- Zu Zeit des Mauerfalls war Aust Chefredakteur des Spiegel TV Magazins.
- Der verheiratete Vater zweier Töchter lebt in Lamstedt (Landkreis Cuxhaven) und Hamburg. red
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