Mannheim. Herr Goetz, nach vier Jahren an der Bergstraße sind Sie Anfang des Jahres zurück nach Mannheim gezogen. Wenige Wochen später erschütterte die Messerattacke am Marktplatz die Mannheimer Stadtgesellschaft. Wie haben Sie von dem Verbrechen erfahren?
Friedel Goetz: Am Tag der Tat hatte ich noch Urlaub, meine Familie und ich waren gerade aus Italien zurückgekommen. Wir haben die gemeinsame Zeit genossen, waren unterwegs. Und dann kamen erste Nachrichten in die WhatsApp-Gruppen, in denen ich als Polizeipfarrer bin. Darin hieß es: Wir sammeln uns, es ist etwas passiert. Da dachte ich mir schon, es muss etwas Großes sein. Als kurz darauf das Video der Tat viral ging, war ich geschockt. Im Laufe des Tages gab es immer mehr Nachrichten, auch privat. Abends habe ich dann die ersten Telefonate mit Verantwortlichen der Polizei geführt und am Samstagvormittag den ersten Kontakt zu Beamtinnen und Beamten gehabt.
Was hat dieses Verbrechen mit Ihnen gemacht?
Goetz: Diese Tat hat mich nicht nur als Polizeiseelsorger betroffen, sondern auch als Bürger dieser Stadt. Und sie ist mit einer Belastung einhergegangen, die ich vorher so nicht kannte. Ich war von Anfang an in zwei Rollen unterwegs: als Privatmensch, der sich gern auf dem Marktplatz aufhält und der nicht fassen konnte, was da unmittelbar vor unserer Haustür passiert ist, aber eben auch als Polizeiseelsorger, mit dem professionellen Ansatz zu fragen: Was passiert innerhalb der Polizei und wie kann ich unterstützen?
Friedel Goetz
- Friedel Goetz (37) hat Evangelische Theologie in Berlin, München, Rom und Heidelberg studiert. Nach dem Vikariat in der CityGemeinde Hafen-Konkordien und seiner Ordination in der Mannheimer Hafenkirche wechselte er 2017 in den Probedienst nach Weinheim und 2018 an die Bergstraße, wo er in der Gemeinde Hirschberg-Großsachsen bis Anfang 2024 Gemeindepfarrer war.
- Seit Februar wirkt er gemeinsam mit Pfarrerin Maibritt Gustrau in der ChristusFrieden-Gemeinde in der Mannheimer Oststadt.
- Seit 2020 ist Friedel Goetz – wie sein Vater und sein Großvater – Polizeiseelsorger. Gemeinsam mit dem katholischen Pastoralreferenten Ulf Günnewig steht er den Beamtinnen und Beamten des Polizeipräsidiums Mannheim als Polizeipfarrer zur Seite.
- Die Polizeiseelsorge ist ein Angebot der christlichen Kirchen an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei, um sie bei der Bewältigung ihrer Aufgaben zu unterstützen.
- Friedel Goetz ist verheiratet und hat zwei Kinder. red
Was passierte innerhalb der Polizei?
Goetz: Die Polizeifamilie musste zuletzt einiges durchmachen. Innerhalb von drei Monaten hat sie zwei große Trauerfeiern wegstecken müssen. Zuerst haben die Beamtinnen und Beamten im März ihren Polizeipräsidenten Siegfried Kollmar verloren. Schon hier habe ich die Trauergemeinde begleitet. Und dann starb Rouven Laur auf diese grausame Art und Weise. Für die Polizeibeamtinnen und -beamten war es unmittelbar nach dieser Tat zunächst wichtig, den Schmerz anzuerkennen. Festzustellen, da ist etwas passiert, das den Rahmen gesprengt hat.
Was hat ihnen geholfen?
Goetz: Ich habe nicht sehr viele Gespräche mit Polizeikräften geführt und die, die ich geführt habe, drehten sich darum, was die Menschen selbst konkret tun konnten, damit es ihnen wieder etwas besser ging. Ich glaube, viele der Polizeibeamten und -beamtinnen haben in ihrem Teamgeist und ihrer Gemeinschaft Halt gefunden. Sie haben sich in der Freizeit getroffen und über das, was passiert ist, gesprochen. Das haben wir in der Polizeiseelsorge auch unterstützt. Ich glaube daran, dass wir in einer Welt leben, die nun einmal nicht perfekt ist. Es gibt Dinge, die müssen wir aushalten und überwinden, indem wir zusammenstehen.
Ist das nach dem Mord an Rouven Laur geschehen?
Goetz: Ja, das hat mich sehr beeindruckt. Im Angesicht größter Grausamkeit, größter Sinnlosigkeit und größter Ungerechtigkeit – all das hat hier stattgefunden – haben die Menschen zusammengehalten und daraus Kraft geschöpft. Das hat man am Montag gleich nach der Tat gemerkt, als unzählige Menschen auf dem Marktplatz zusammenkamen. Man hat es auch gemerkt, als die Polizisten beim Trauermarsch geschlossen durch die Stadt gezogen sind und Anerkennung bekamen, für das, was sie täglich leisten. Das hat ihnen sehr gutgetan.
Und doch lag nach der Messerattacke eine Schwere über der Stadt, die kaum auszuhalten war.
Goetz: Die Wochen nach der Tat habe ich auch als sehr bedrückend empfunden. Überall haben die Menschen mit dieser Situation gerungen, sie waren tief betroffen und haben nach Wegen gesucht, wie sie mit dieser Tat umgehen sollen. Und das Besondere war, das nicht nur eine bestimmte Gruppe Menschen davon betroffen war, sondern dass der Fall eigentlich mit allen Menschen in der Stadt etwas gemacht hat. Dadurch hat er eine eigene Dynamik und Kraft entwickelt. Und auch eine ungeheure Belastung. Ich habe erst später gemerkt, wie sehr mich diese Zeit erschöpft hat. Nach der Trauerfeier, die noch einmal wie ein Katalysator gewirkt hat, die vieles aufgelöst hat.
Inwiefern?
Goetz: Man hat während der Trauerfeier ganz deutlich gemerkt, dass es um sehr viel ging. Die Reden bestanden nicht einfach nur aus Phrasen. Das gilt insbesondere für den Brief der Eltern von Rouven Laur, der verlesen wurde. Aber auch die Politiker haben den richtigen Ton getroffen und Zusammenhalt beschworen. Dieser Fall hätte auch einen ganz anderen Impuls geben, eine andere gesellschaftliche Dynamik in Gang setzen können, wenn die Eltern oder die Politik den Fokus mehr auf Trennung, Schuldsuche und Bestrafung gelegt hätten. Diese Trauerfeier hat für mich nach Frieden, nach Versöhnung gesucht – oder gebetet, könnte ich als Pfarrer sagen. Sie hatte etwas sehr Heilsames und eine positive Botschaft, weil alle Beteiligten es so wollten. Das ist etwas, das kann man nicht planen. Und ich werde diese Trauerfeier auch nie vergessen.
Für Sie ist der Fall samt der Trauerbewältigung unvergessen. Was ist Ihr Eindruck, wie sehr beschäftigt der Fall die Einsatzkräfte und die Menschen in der Stadt bis heute?
Goetz: Es war fast schon absurd, dass direkt nach der Trauerfeier die Fußball-EM im eigenen Land angefangen hat. Und dann hat die Nationalmannschaft auch noch so geliefert, das hat die Stimmung schon wieder hochgetrieben. So ist das bei uns Menschen, Hochs und Tiefs wechseln sich ab. Ich glaube, der Fall selbst ist bei den Menschen hier aber nicht in Vergessenheit geraten, dafür hat er sich zu tief eingebrannt. Da sind Narben zurückgeblieben, vor allem in den Reihen der Polizei.
Bei vielen ist da noch immer ein tiefer Schmerz, und natürlich war und ist da auch Wut auf den Mann, der so viel Unglück verursacht hat. Was sagen Sie den Menschen, die wütend sind, und ja, vielleicht auch hasserfüllt?
Goetz: Ich denke, es ist ganz normal, dass man Wut und Hass nach so einer Tat in sich hat. Das ist auch nicht verwerflich. Wichtig ist aber, dass man diese Gefühle nicht einfach unkontrolliert auslebt und vielleicht noch mehr Schaden anrichtet. Ich habe immer wieder betont, wie wertvoll ich es fand, dass die Eltern von Rouven Laur nicht den Hass geschürt haben. Stattdessen haben sie Frieden und die Liebe, die sie für Rouven empfunden haben, ins Zentrum ihrer Trauer gestellt. Dadurch waren sie ein Vorbild für viele andere Menschen, die getrauert haben. Aber natürlich beschäftigen die großen Themen Schuld und Gerechtigkeit die Menschen im Kontext dieses Verbrechens.
Der Attentäter wird sich voraussichtlich wegen Mordes vor dem OLG in Stuttgart verantworten müssen. . .
Goetz: Wir werden die Schuldfrage im Rahmen eines Gerichtsverfahrens lösen, das ist für mich ein wichtiger Teil von Gerechtigkeit. Wir haben hier eben keinen Märtyrer, der Täter wird einen Prozess bekommen. Die Straftat wird juristisch verfolgt werden, in einem Gerichtssaal, wo andere gesellschaftliche Werte hochgehalten werden, wo Probleme eben nicht mit einem Messer gelöst werden. Der Täter hat seine Religion missbraucht. Ideologisierter Glaube darf nicht in Konkurrenz zu unserem demokratischen Rechtsstaat stehen.
Was bleibt nun noch für Sie zu tun?
Goetz: Wir Vertreterinnen und Vertreter der Religionen haben nun die Aufgabe, das friedliche Miteinander der Glaubensgemeinschaften zu gestalten – so wie wir es beim Friedensgebet auf dem Marktplatz erleben durften. Über Gerechtigkeit im juristischen Sinn wird im Gericht entschieden werden. Für Gerechtigkeit in unserer Stadtgemeinschaft brauchen wir zudem die persönlichen Werte der Bürgerinnen und Bürger.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Der Staat stößt bei Messerattacken derzeit an seine Grenzen!