Mannheim. Immer wieder hat Karla Spagerer in den Schulen von einer Szene erzählt. Mit einer Freundin ging sie in den Kriegszeiten abends in den Bunker, wenn es schon früh dunkel wurde. „Plötzlich hat meine Freundin gesagt: ,Du, Karla, es wird gar nicht dunkel. Es wird ja immer heller.‘ Das waren die Christbäume.“ Engländer leuchteten mit diesen vom Himmel die Städte aus. „Das sah aus, als ob Christbäume am Himmel standen. Wenn man diese Christbäume gesehen hat, wusste man, man hat vielleicht noch zehn Minuten, bevor die Bomber kommen. Wir sind um unser Leben gerannt. Das werde ich nie vergessen“, sagte Spagerer.
Nun ist Karla Spagerer tot. Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes ist am Freitag im Alter von 95 Jahren gestorben, teilte die SPD Mannheim mit. „Die gesamte Mannheimer Sozialdemokratie verneigt sich in Trauer, Dankbarkeit und großem Respekt für ihre Lebensleistung vor dieser großartigen Frau“, wird der SPD-Kreisvorsitzende Stefan Fulst-Blei zitiert.
Mannheimerin Karla Spagerer tot: Wie erinnert eine Gesellschaft, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?
Wie erinnert eine Gesellschaft an Unvorstellbares, wenn keine Zeitzeugen mehr darüber sprechen können? Vor einigen Tagen hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Mannheimer Schloss diese Frage aufgeworfen. Der Hintergrund: Er ehrte Wissenschaftlerin Aleida Assmann für ihre Forschung und ihren Einsatz zur Erinnerungskultur. Assmann initiierte unter anderem das Berliner Holocaust-Mahnmal mit.
Karla Spagerer
Karla Spagerer wurde am 27. Oktober 1929 in Mannheim geboren . 1947 heiratete sie Walter Spagerer . Die Ehe hielt bis zu dessen Tod am 20. Februar 2016.
Walter Spagerer saß für die SPD von 1972 bis 1988 im Landtag . Er engagierte sich für den SV Waldhof. Die Haupttribüne des Benz-Stadions trägt seinen Namen.
Auch Karla Spagerer war dem SV Waldhof eng verbunden . Die Sozialdemokratin war 2022 außerdem ältestes Mitglied der Bundesversammlung , die den Bundespräsidenten wählt.
Spagerers Großmutter war Kommunistin . 1936 holte die Gestapo sie und brachte sie ins Untersuchungsgefängnis im Mannheimer Schloss.
Seit 2018 trat Spagerer als Zeitzeugin öffentlich vor allem an Schulen auf. 2022 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz.
Diese Frage ist eine Frage, die sich in dieser Woche ganz unangenehm aufdrängte. Deutschlandweit - und jetzt auch in Mannheim. Denn nach dem Tod von Margot Friedländer geht mit Karla Spagerer eine weitere Mahnerin, die so menschlich war.
Bei Karla Spagerer war es auch eine unverwechselbare und humorvolle Art, die auch die Schwere vergangener Zeit eindringlich vermitteln konnte. Wenn Zeitzeuginnen und Zeugen sprechen, kann jedes Schulbuch einpacken. Spagerer war ein Musterbeispiel hierfür. Die Ur-Waldhöferin schaffte es mit ihrer Aura und ihrer Authentizität, Vergangenheit plastisch zu machen - und einer Generation ein Gesicht zu geben. Auch bei Unvorstellbarem.
Mannheimerin Karla Spagerer: „Seid wachsam. Passt auf. Denkt überhaupt über alles nach“
Warum hat sie so lange gar nicht über die dunkle Zeit Deutschlands gesprochen, wollte die Redaktion in einem der letzten Interviews mit ihr wissen: „Weil ich gedacht habe, die Zeit kommt nicht mehr. Dass Menschen aus ihren Fehlern lernen“, war ihre klare Antwort. Und ihre weitere Erkenntnis: „Seit es die AfD gibt, in der Rechtsextreme das Sagen haben, muss ich aber darüber sprechen.“
Zu dem Zeitpunkt war die Partei noch nicht als rechtsextrem eingestuft. Aber Spagerer, ihres Zeichens scharfsinnige Denkerin, war ihrer Zeit auch hier voraus. „ Seid wachsam. Passt auf. Denkt immer über die politischen Konsequenzen nach. Und denkt überhaupt über alles nach“, mahnte sie eindringlich im Gespräch.
Ur-Mannheimerin: Karla Spagerer kurz vor ihrem Tod: „Mir macht Politik wieder Angst“
Spagerer sagte: „Mir macht Politik wieder Angst.“ Sie ergänzte: „Ich habe nicht um mich Angst. Ich bin alt, ich habe alles erlebt. Ich habe um meine Kinder, meine Enkel, meine Urenkel Angst. Aber nicht nur um meine - sondern um alle in den Generationen.“
Die Mannheimerin eindringlich: „Ich werde jedem Menschen sagen, dass ich zwei Frauen gekannt habe, Mannheimer Bürgerinnen, die ermordet wurden, weil sie Jüdinnen waren. Und ich werde jeden fragen: Wer hat das Recht, Menschen wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder ihrer sexuellen Neigung auszugrenzen oder zu ermorden?“ Und schob sofort die Antwort hinterher: „Niemand. Gar niemand.“
Mit der aus einer Arbeiterfamilie stammenden Spagerer geht indes auch ein prägendes Waldhof-Gesicht: „Ihr unermüdliches Engagement, ihre Liebe zum SV Waldhof und ihre Treue werden unvergessen bleiben. Karla war nicht nur Teil der Geschichte unseres Vereins – sie war Herz und Seele der Waldhof-Familie“, teilte der SV Waldhof Mannheim am Freitag mit. Die Mannschaft des Vereins werde beim Auswärtsspiel am Samstag in Bielefeld mit Trauerflor auflaufen.
Karla Spagerer lernte späteren Mann Walter Spagerer in Gaststätte der Familie auf dem Waldhof kennen
Die Waldhof-Bande wurden früh geknüpft: Auch weil die Gaststätte von Spagerers Familie, die seit 1939 bestand, am nächsten am Stadion lag. Nach den Spielen war es dort rappelvoll. Während der Arbeit lernte Spagerer dort ihren späteren Ehemann kennen, den bekannten SPD-Politiker und Gewerkschaftler Walter Spagerer, der sich auch für den SV Waldhof engagierte.
So schrieb ihr Leben im Lokal dort eine schöne Geschichte - und auch die erzählte sie gern: „Er ist jeden Tag zur gleichen Zeit an der Gaststätte vorbeigelaufen, hatte immer einen dunkelgrünen Anzug an“, erinnerte sich die Waldhöferin.
Ihre Mutter sei gleich hellhörig geworden, sie habe gemerkt, dass ihr junges Mädchen verliebt sei: „Und Vater war ja in Gefangenschaft, da wollte sie, dass ich ihr den jungen Mann mal zeige. Und als sie ihn gesehen hat, sagte sie, der ist zu alt für dich“, lachte Spagerer damals unverwechselbar herzhaft während ihrer Erzählung. Doch sie brachte das wie gewohnt nicht aus dem Konzept. Denn die SPD-Politikerin hatte wie so oft die Hosen an: „Als er einmal vor der Gaststätte mit einem anderen Mann stand, den ich kannte, bin ich raus und wurde auch vorgestellt.“
Vorstellen wollte sie sich und ihre Geschichte auch gleich im nächsten Monat wieder bei einer weiteren Zeitzeugenveranstaltung. Unermüdlich. Und menschlich. Wie immer. „Weil ich möchte, dass sie so etwas nie mehr erleben müssen“, sagte sie in Richtung Kinder und Jugendlicher. Doch dazu kommt es nicht mehr. Jetzt ist es an uns, eine Möglichkeit zu finden, ihre Botschaft weiter zu tragen. (mit seko, dk)
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