Wahl - Warum die 92-jährige Karla Spagerer am Sonntag bei der Bundesversammlung dabei sein darf

Warum die 92-jährige Karla Spagerer aus Mannheim den Bundespräsidenten wählen darf

Von 
Peter W. Ragge
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Karla Spagerer vor ihrem Wohnhaus auf dem Waldhof. Die 92-jährige Sozialdemokratin ist ältestes Mitglied der Bundesversammlung. © Uwe Anspach/dpa

Mannheim. „In dem Moment haben mir die Worte gefehlt – und das passiert mir nicht oft“, erinnert sich Karla Spagerer an den Anruf im Dezember. Am Telefon meldet sich Andreas Stoch, der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion in Stuttgart. Er sagt ihr, dass die SPD im Land sie auserkoren hat, den Bundespräsidenten mitzuwählen. Nun ist die 92-jährige Sozialdemokratin vom Waldhof sogar das älteste Mitglied der Bundesversammlung, die am Sonntag in Berlin zusammenkommt.

Als „die Anja“, wie sie Stochs Büroleiterin Anja Hof nennt, am Telefon ist, denkt sie sich noch nichts dabei. „Der Andreas“, so Karla Spagerer über Stoch, sei ja mit dem SPD-Landtagsabgeordneten Stefan Fulst-Blei im Landtagswahlkampf schon zum Kaffee bei ihr gewesen, „es gab Käsekuchen“, weiß sie noch. Das Angebot von Stoch, sie in die Bundesversammlung zu entsenden, sei aber „schon eine große Überraschung gewesen“, so Spagerer, „mit so etwas habe ich ja echt gar nicht gerechnet“.

Mitglieder aus Mannheim

  • Der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, gehören alle 736 Mitgliedern des Deutschen Bundestags an – dazu gleichviele Vertreter der Länder, die von den Landesparlamenten gewählt werden.
  • Zur 17. Bundesversammlung am 13. Februar zählen so viele Mannheimer wie noch nie.
  • Mit dabei sind alle Bundestagsabgeordneten: Gökay Akbulut (Linke), Isabel Cademartori (SPD), Melis Sekmen (Grüne) und Konrad Stockmeier (FDP).
  • Der Landtag entsendet, von der SPD nominiert, den Landtagsabgeordneten Boris Weirauch und Karla Spagerer. SPD-Landtagsabgeordneter Stefan Fulst-Blei verzichtete, da er bereits 2017 Mitglied der Bundesversammlung war. 

 

Aber jetzt freut sie sich, dass sie – wegen ihres Alters von ihrem Enkel Tim (24) begleitet – am Samstag nach Berlin fahren und am Sonntag bei dem großen Ereignis dabei sein darf. Dass Frank-Walter Steinmeier ihre Stimme bekommt, ist für Karla Spagerer klar. „Ich kenne ihn ja, er ist nett, er war ja mehrfach in Mannheim“. Aber „dass da vor über 1000 Leuten mein Name aufgerufen wird und ich vorgehen muss – wenn ich daran denke, zittern mir die Knie“, bekennt sie einerseits. Doch dann kommt sofort der Satz: „Ich schaff das!“, schließlich ist die 92-Jährige so fit und aktiv, resolut und schlagfertig, dass man ihr das Alter überhaupt nicht anmerkt.

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Die SPD will mit ihrer Berufung in die Bundesversammlung einen ganz besonderen Einsatz von Karla Spagerer ehren. Seit einigen Jahren geht sie in Schulen, um über ihre Erfahrungen in der Diktatur der Nationalsozialisten zu berichten, oder sie tritt bei Veranstaltungen von Stefan Fulst-Blei zu diesem Thema auf. Den Anstoß gab 2018 eine Einladung von Thorsten Riehle ins Capitol, wo sie erstmals erzählte – und dann ermuntert wurde, es wieder zu tun.

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„Jahrzehnte habe ich nicht darüber gesprochen“, sagt Karla Spagerer, „denn ich war überzeugt, dass diese Zeit nicht mehr kommt“. Politik – das war Sache ihres 2016 verstorbenen Mannes Walter Spagerer, der vier Jahre Stadtrat, dann 1972 bis 1988 SPD-Landtagsabgeordneter, bekannter Gewerkschafter und SV Waldhof-Präsidiumsmitglied sowie Träger des Bloomaulordens war.

68 Jahre waren sie verheiratet. Schon kurz nach dem Krieg hat sie ihn kennengelernt und ihn sowie die SPD immer unterstützt, für ihren Mann Plakate geklebt und Flugblätter verteilt, doch erst wegen Willy Brandt sei sie in die Partei eingetreten. „Aber aus der Politik wollte ich mich immer ’raushalten, das habe ich mir als kleines Mädel vorgenommen“, so die 92-Jährige.

Erinnerung an die Gestapo

Doch die Wahlerfolge der AfD und plötzlich wieder deutlich sichtbarer Antisemitismus haben sie „entsetzt“, wie sie sagt. „Es ist keine 100 Jahre her, dass sechs Millionen Juden umgebracht wurden – dass sie jetzt wieder Angst haben müssen, das ist doch nicht auszuhalten“, schimpft sie. Daher will sie „Sprechen gegen das Vergessen“, solange sie die Kraft dazu habe. Sie hat nämlich all das nicht vergessen, was sie erlebt, was ihre Familie erlitten hat. Als sie sieben Jahre alt ist, „da ist die Gestapo gekommen und hat meine Großmutter verhaftet, die habe ich sehr gemocht“, sagt sie und ist noch heute gerührt. Doch weil die Oma Babette Ries, eine überzeugte Kommunistin und Stadträtin der KPD, Geld und Lebensmittel für die Familien von inhaftierten Widerstandskämpfern gesammelt habe, musste sie für 18 Monate ins Zuchthaus.

Im Alter von zehn Jahren bekommt die kleine Karla die Reichspogromnacht mit. Ihr Vater arbeitet als Schlosser in F 3, 5-6, bei der von zwei jüdischen Schwestern geführten Sack- und Deckenfabrik Kalter. Sie sieht völlig verstört, dass die Synagoge in F 2 zerstört, die Firma beschädigt ist und erfährt, dass die Schwestern weg sind. Was „weg“ bedeutet, begreift sie erst später.

Mit Kriegsbeginn 1939, sie ist gerade mal zehn Jahre alt, wird der Vater von Karla Spagerer zur Wehrmacht eingezogen – er kommt erst 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Die Gastwirtschaft der Eltern in der Bopp & Reuther-Siedlung an der Ecke Alte Frankfurter Straße/Waldstraße muss die Mutter alleine weiterführen. Oft treffen sich hier Freunde der Eltern, darunter Mitglieder der Familien Faulhaber und Lechleiter, die zur kommunistischen Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten gehören.

Plakate der Hinrichtung

Am 15. September 1942 werden 14 Mitglieder der „Lechleiter-Gruppe“ in Stuttgart mit dem Fallbeil hingerichtet. Die Frauen von Lechleiter und Faulhaber, die in der Gaststätte der Spagerers sitzen, ahnen es, aber wissen es nicht. Also wird Klara, damals knapp 13 Jahre alt, zur Plakatwand geschickt, wo sie die knallroten Plakate der Nazis entdeckt, welche die Hinrichtung verkünden. Sie ist es, die diese Nachricht den Witwen überbringt. „Alle Namen standen drauf, ganz oben Lechleiter“, erinnert sie sich. „Danach saßen alle in der Küche und haben geweint, und ich habe, obwohl ich so jung war, gleich gewusst: Da gibt es keinen Trost“, sagt sie heute.

Diese „ganz schlimme Zeit“, wie sie betont, habe sie stark geprägt. „Wir waren damals für unser Alter viel, viel reifer, mussten reifer sein, als Zehn- bis 13-Jährige heute“, so Karla Spagerer. „Aber ich will nicht, dass die junge Generation von heute so etwas noch mal miterleben muss, daher gehe ich in Schulen, daher rede ich“, bekräftigt sie: „Da kann ich nicht ruhig sein!“

Redaktion Chefreporter

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